Schattenkinder
sich um und rannte davon ohne sich umzusehen. Nicht mal an der Scheune machte er Halt. Er rannte geradewegs zum Hintereingang seines Elternhauses, riss die Tür auf und ließ sie krachend hinter sich ins Schloss fallen.
Jetzt, beim Abendessen, hatte er wieder Herzklopfen vor Aufregung, als er daran dachte. Warum hatte er sich nicht zuerst umgesehen? Warum war er nicht gekrochen? Er stach mit der Gabel in den Kartoffelbrei, der inzwischen kalt und eingetrocknet war. Er sah zu, wie seine Mutter das Geschirr einsammelte, während der Vater und die Brüder sich in ihren Stühlen zurücklehnten und sich über die Getreideernte unterhielten. Jen hatte ihm Angst gemacht - das war der Grund für seine Hast. Zuzusehen, wie sie sich selbst die Hand aufriss, war wie ein Schock für ihn gewesen. Wie konnte sie so etwas für ihn tun, wo sie sich doch gerade erst begegnet waren?
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Kapitel 17
In den nächsten drei Tagen tat Luke im Grunde nichts anderes als seinen geheimen Besuch bei Jen noch einmal zu durchleben oder für den nächsten Pläne zu schmieden. Am ersten Tag kam ein Regierungsinspektor vorbei, um sich die Getreideernte der Garners anzusehen, also blieb Luke den ganzen Tag auf seinem Zimmer. Am zweiten Tag regnete es und der Vater saß den ganzen Vormittag im Haus über den Büchern. Am dritten Tag ging der Vater wieder aufs Feld, aber als Luke pünktlich um neun Uhr morgens zum Hinterausgang schlich und mutig das Licht an- und ausknipste, kam von Jen kein Antwortsignal. Vielleicht gingen drüben die Uhren etwas nach. Luke ließ das Licht eine geschlagene Viertelstunde brennen, wobei er die ganze Zeit über Heidenängste ausstand, jemand anderes könnte es entdecken. Schließlich knipste er das Licht tief bedrückt wieder aus und stieg mit schlotternden Knien in sein Zimmer hinauf.
Wenn Jen nun etwas zugestoßen war? Wenn sie krank und allein in ihrem Haus lag, vielleicht sogar im Sterben? Wenn sie nun erwischt oder verraten worden war? Schon in der kurzen Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, war ihm klar geworden, dass sie viele Risiken einging.
Nie vorher war er auf den Gedanken gekommen, dass ihm die Bekanntschaft mit einem anderen Menschen auch Grund für Sorgen sein könnte.
Oben auf der Treppe lehnte er sich Halt suchend an die Wand und dachte an weniger beängstigende Möglichkeiten: Vielleicht musste einer ihrer Eltern heute nicht arbeiten und war nur kurz ausgegangen, um einige Besorgungen zu machen, würde aber bald zurück sein. Vielleicht ... er suchte nach einem weiteren harmlosen Grund dafür, warum Jen ihm nicht signalisiert hatte herüberzukommen. Aber es fiel ihm so schwer, sich ihr Alltagsleben vorzustellen, dass seine Fantasie ihn im Stich ließ.
Er erfuhr den Grund, als er am nächsten Tag zu Jen hinüberhechtete, sobald sie auf sein Zeichen geantwortet hatte.
»Wo warst du?«, fragte er wie aus der Pistole geschossen.
»Wann? Gestern?« Sie gähnte und schob die Schiebetür hinter ihm zu. »Hast du versucht herüberzukommen? Tut mir leid. Mom hatte frei und ich musste mit ihr einkaufen gehen.«
Luke blieb der Mund offen stehen. »Einkaufen? Du bist ausgegangen?«
Jen nickte lässig.
»Aber ich hab dich gar nicht wegfahren sehen...«, wandte Luke ein.
Jen sah ihn an, als zweifle sie ernsthaft an seinem Verstand. »Natürlich nicht. Ich habe mich versteckt. Der Rücksitz unseres Autos ist innen hohl - Dad hat es extra anfertigen lassen.«
»Du bist ausgegangen...«, wiederholte Luke ehrfürchtig.
»Na ja, gesehen habe ich nicht viel, bis wir ins Einkaufszentrum kamen. Zwei Stunden lang im Dunkeln durch die Gegend gefahren zu werden ist nicht gerade sehr unterhaltsam. Ich kann es nicht ausstehen.«
»Aber im Einkaufszentrum - bist du da ausgestiegen? Musstest du dich da nicht verstecken?«
Jen lachte über seine Verwunderung.
»Mom hat mir schon vor Jahren einen gefälschten Einkaufspass besorgt. Offiziell bin ich ihre Nichte. Für die Verkäufer reicht das allemal, aber wenn mich die Bevölkerungspolizei bei einer Straßenkontrolle erwischen würde, wäre ich geliefert. Da kannst du die Prioritäten meiner Mutter sehen: Einkaufen ist wichtiger als mein Leben.«
Kopfschüttelnd ließ sich Luke auf dem Sofa nieder, weil sich seine Knie ein wenig wacklig anfühlten.
»Das wusste ich nicht«, sagte er. »Ich wusste nicht, dass dritte Kinder so was machen können.«
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Margaret Peterson Haddix - Schattenkinder
Und wenn
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