Schattenkrieg
Geräusche waren unmenschlich, das Blubbern wurde zu einem Zischen, es blieb nur ein Fauchen übrig und dann gar nichts mehr. Regungslos lag er auf dem Boden. Fassungslose Stille auch bei den Zuschauern. Veronika hatte Mühe damit, genügend Luft zu bekommen, geschweige denn, aufzustehen. Etwas in ihr schrie danach, jetzt Stärke zu zeigen, um die Meute davon abzuhalten,sich auf sie zu stürzen, doch ihr fehlte die Kraft. Sie war völlig fertig, das unmenschlich hohe Adrenalin hatte sie völlig ausgelaugt.
Dann war da plötzlich Fatima, die in den Kreis getreten war und mit schnellen, bestimmten Worten auf die Männer einredete. Veronika spürte, wie sie auf die Beine gezogen wurde, jemand streckte ihr sogar den Helm entgegen, den sie am Eingang der Schule liegengelassen hatte. Man legte einen Arm um sie und half ihr dabei, zu dem Fahrzeug zu taumeln. Wassermann beugte sich über sie, gurtete sie an, kletterte dann selbst in das Fahrzeug.
»Fahren Sie, Mann!«, flüsterte sie. »Fahren Sie!« Dann fiel sie in eine bodenlose Schwärze.
Es folgten wirre Bilder, Momentaufnahmen in der Finsternis:
Wassermanns Gesicht, von den Schlägen des Albaners aufgequollen und blutverschmiert, der verbissen hinter dem Steuer saß, sich das Sprechgerät vor den Mund haltend, mit dick geschwollenen Lippen, die sich hastig bewegten;
die Soldaten am Schlagbaum, fahle, erschrockene Gesichter, die zu ihr in den Wagen starrten;
Garnier, der sich einen Weg durch die Soldatentraube zu ihrem Wagen bahnte, mit den Händen Infusionsflaschen und Verbände über die Köpfe der Männer haltend;
Tönnes, der die Soldaten vom Appellplatz zerrte und mit Tritten davonjagte;
unbekannte Gesichter, die sie auf eine Trage legten und durch die Heckklappe eines Dingos schoben;
wieder Garnier, der während einer langen Fahrt über ihr saß, sein Mund ständig in Bewegung, als ob er auf sie einredete;
irgendwann dann Männer in grüner Kleidung, noch mehr Münder, die über ihr hingen und versuchten, ihr irgendetwas mitzuteilen, dahinter weiße, saubere Wände und chromglitzernde Metallgegenstände;
und dann wieder Schwärze.
DERRIEN
Irgendwo im Niemandsland, Norwegen
Freitag, 11. Dezember 1998
Die Innenwelt
Derrien erwachte aus seiner Bewusstlosigkeit wie aus einem tiefen, festen Schlaf. Er erinnerte sich an einen Traum, einen sehr schönen Traum, und er versuchte, sich daran festzuklammern. Sein Verstand sträubte sich gegen das Erwachen. Sein Instinkt sagte ihm, dass er von der Realität nichts Gutes zu erwarten hatte. Dennoch schälten sich nach und nach die Schichten des Schlafs von ihm ab, und Sinneswahrnehmungen begannen, zu ihm durchzudringen.
Etwas Schweres, ein Schlauch oder mehrere Lagen Seil vielleicht, war um seinen Hals geschlungen, jedoch nicht mehr fest genug, um ihm noch weiter den Atem abzuschnüren. Sein Körper befand sich in einer sitzenden Position, mit Fesseln an Armen und Beinen. Er schien in dieser Position schon eine Weile zu sein, wenn er nach den Schmerzen ging, die ihm seine Muskeln und Sehnen bereiteten. Er spürte einen Pflock in seinem Rücken, an dem die Fesseln vermutlich befestigt waren. Ein Lagerfeuer knackte und warf einen rötlichen Schimmer gegen seine Augenlider, und er hörte Stimmen in seiner Nähe, leise Stimmen in einer merkwürdigen Sprache. Die Luft roch nach Moder und altem Öl. Er öffnete die Augen einen Spalt weit.
Das Lagerfeuer, dessen Schein er gesehen hatte, befand sich zwei Meter vor ihm. Mehrere in Leder gerüstete, dunkelhäutige Krieger hatten sich darum geschart. Ihre Blicke waren auf ihn gerichtet, aber sie wirkten zu entspannt, als dass sie Derriens Erwachen bemerkt haben könnten. In weiterer Entfernung, jenseits einer vonschmutziggrauem Schnee bedeckten Wiese, befand sich eine ganze Reihe weiterer Lagerfeuer, orange Flecken vor der schwarzen Silhouette eines Waldrandes, über dem sich der erste Schein einer Morgendämmerung zeigte. Dicker, ölig stinkender Nebel hing über der Landschaft.
Schattennebel
. Derrien hatte keine Ahnung, wo er war. Vermutlich irgendwo in der Nähe Bergens …
Dafür wusste er nur
zu
gut, was eigentlich geschehen war. Er war in eine Falle geraten. Eine
perfekte
Falle. Er hatte den Schwarzen Baum unterschätzt. Rushai hatte jeden einzelnen seiner Schritte vorausgesehen – denn wozu hätte er sonst die Späher auf den Bergen platziert, wenn nicht, um Derrien in Sicherheit zu wiegen? Die verzauberten Bäume am südlichen Waldrand hatten nur
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