Schattenkrieg
nicht unbedingt einen Schatten. Fomorer waren ebenso dazu in der Lage. Und vermutlich waren es auch Menschen. Baturix dachte zurück an sein Leben vor der Innenwelt, an das Gefängnis, an die Gründe,
warum
er dort gewesen war. Natürlich hatte er kein Mädchen auf einen Pfahl gespießt; aber er hatte …
Er schob den Gedanken beiseite. Es hatte guten Grund gegeben, ihn einzusperren. So gerne er es auch leugnen würde, aber er besaß,tief in seinem Inneren verborgen, eine sadistische Ader. In ihm steckte der Ansatz zu einem Fomorer …
Der Ansatz dazu steckt vermutlich in jedem Menschen. Vielleicht haben es die Schatten deshalb so einfach, uns für ihre Sache zu gewinnen und zu Fomorern zu machen. Wäre ich ein Fomorer geworden, wenn mich damals im Gefängnis ein Schatten gefunden hätte und nicht Cintorix?
Die Antwort auf die Frage kannte Baturix jedoch nur zu gut. Die Scham brannte fürchterlich in ihm.
VERONIKA
Petrovce, Kosovo
Mittwoch, 10. Februar 1999
Die Außenwelt
Inzwischen war es hell genug geworden, um den fettigen, schwarzen Rauch zu sehen, der über Petrovce hing. Der Himmel über dem heimgesuchten Dorf strahlte im Schein der aufgehenden Sonne hellrosa. Die Gebäude selbst waren jedoch noch nicht zu erkennen, der Feldweg, auf dem die Fahrzeuge angehalten hatten, war etwas in den Boden eingesenkt. Der Vorteil daran war, dass so auch niemand auf sie schießen konnte.
Veronika winkte die Gruppenführer mit sich und kroch die verschneite Böschung nach oben, bis sie freien Blick auf das Dorf hatte. Dort kramte sie das Fernglas aus der Tasche und besah sich die Häuser. Das Einzige, was ihr auf den ersten Blick ins Auge stach, waren die leeren, verwaisten Straßen, ganz im Gegensatz zu den sonstigen Gepflogenheiten hier im Lande, wo der größte Teil der gesellschaftlichen Aktivitäten im Freien stattfand. Langsam fuhr sie mit dem Fernglas die Häuserreihen ab, auf der Suche nach einem Hinterhalt oder anderen Zeichen dafür, dass eine Gefahr drohte – vergeblich.
Schließlich setzte sie das Glas ab und erklärte ihren Gruppenführern: »Jede Gruppe bewegt sich separat. Ich möchte herausfinden, welche Schäden diese Miliz angerichtet hat, wie viele Tote es gegeben hat und wie viele Verwundete. Versuchen Sie, den Leuten keine Angst einzujagen, aber bleiben Sie wachsam – vielleicht haben sich nicht alle Serben von Sterns Feuerwerk verjagen lassen. Wir halten Funkkontakt auf den Walkie-Talkies. Wenn Sie auf etwas Besonderes stoßen sollten, geben Sie mir Bescheid.«
»Was ist mit dem Blauhelmbefehl?«, fragte Tönnes. »Können wir die Gewehre im Anschlag halten?«
Veronika schürzte nachdenklich die Lippen. »Ja«, meinte sie schließlich. »Aber keiner von uns schießt zuerst, klar?« Nachdem die Gruppenführer genickt hatten, fuhr sie mit ihren Anweisungen fort: »Postieren Sie Ihre Maschinengewehrschützen hier am Weg. Falls irgendjemand auf uns schießt, während wir die Felder überqueren, können sie uns Deckung geben. Tönnes, linke Flanke, Bender, rechte Flanke. Kollborn, Sie bleiben in der Mitte. Weitere Fragen?« Da sich niemand zu Wort meldete, befahl sie: »Los geht’s!«
Die Unteroffiziere verteilten sich auf ihre Gruppen. Veronika konnte spüren, wie eine Welle der Aufregung durch die Soldaten schwappte, als sie von Veronikas »Gewehr-im-Anschlag«-Befehl hörten.
Jetzt wird’s also ernst
, schienen sie zu denken. Veronika selbst lud ihre MPi durch und schob sie sich auf den Rücken – die Mündung nach unten, so dass man die Waffe schnell vorholen und schießen konnte.
Nichts passierte, während sie über die schneebedeckten Felder liefen. Als Veronika jedoch das Dorf erreichte, war es ihr, als ob eine eiskalte Hand langsam ihren Rücken hinabstreichen würde – sie witterte Gefahr. Sie griff noch einmal zum Walkie-Talkie: »Hier Wagner. Seien Sie vorsichtig. Etwas ist hier faul.« Die Männer bestätigten. Sie ließ das Gerät zurück in die Brusttasche rutschen und folgte dann mit wild schlagendem Herz Kollborns Gruppe.
Sie gingen die Hauptstraße entlang. Kollborn hatte seine sieben Männer in zwei Schützenreihen aufgeteilt, die an den Straßenrändern entlang vorrückten. Veronika folgte ihnen mit etwas Abstand, Feldwebel Ulrich im Schlepptau.
Der Eindruck, den sie mit dem Fernglas gewonnen hatte, hatte nicht getrogen. Das Dorf war tatsächlich verlassen. Türen waren eingetreten, Fenster zerschlagen, auf der Straße lagen Holzsplitter und Patronenhülsen.
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