Schattenkrieg
Aber es ist besser, ihn jetzt zu verletzen – egal, wie hart es ihn treffen wird –, als ihn später zu Grabe zu tragen. Falls es zur Schlacht kommt, wird es
Hunderte
von Toten geben, bevor die Schatten geschlagen sein werden!«
Natürlich wusste er, wie viel Ergad daran lag, mit ihm in den Krieg zu ziehen. Er war da genauso unvernünftig wie alle anderen Jungen in seinem Alter. Ronan war auch bewusst, wie es sich auf die Zukunft seines Sohnes auswirken würde, wenn er ihn zu Hause ließ, während alle anderen kämpften. Der Junge würde für den Rest seines Lebens ein Mensch zweiter Klasse sein, ein einfacher Seemann, auf den die Überlebenden der Schlacht herabblickten, den sie verachteten. Es würde sein Leben nicht einfach machen. Aber zumindest
hätte
er ein Leben! Ergad war sein einziger Sohn, und Ronan wollte ihn nicht verlieren, selbst wenn es bedeutete, ihn einer schweren Zukunft zu überlassen.
Er hörte Maela schluchzen. »Ich weiß, was er dir bedeutet! Was er uns bedeutet! Ich hatte solche Angst um dich, als auf Trollstigen die Schlacht tobte!« Sie schlang ihre Arme um ihn, stieg über ihn, küsste ihn. Er spürte ihre Tränen auf seiner Wange. »Ich will dich nicht nach Bergen lassen, hörst du? Bleib bei mir! Bleib bei deinen Töchtern und deinem Sohn! Wir brauchen dich!« Sie küsste ihn erneut, drängender. »Versprich mir, dass du bei uns bleibst! Was wäre die Sippe ohne dich?«
»Es wird nicht dazu kommen!«
»Versprich es mir!«
»Ich verspreche es!« Es war ein hohles Versprechen, geboren aus Verzweiflung und Angst.
KEELIN
Inverness, Schottland
Samstag, 31. Oktober 1998
Die Außenwelt
Keelin erwachte. Es war Nacht geworden und dunkel in der Küche des Schwesternwohnheims. Der Fernseher flimmerte mit leisem Rauschen. Er und der fies grinsende Halloween-Kürbis daneben waren die einzigen Lichtquellen im Raum. Mühsam stemmte sie sich hoch. Ihr Rücken schmerzte vom langen Liegen auf der Eckbank. Sie schaltete den Apparat ab und blies die Kerze im Kürbis aus, dann ging sie in ihr Zimmer. Sie fiel wie ein Stein in ihr Bett.
Heute war ein besonders schlimmer Tag gewesen, einer von der Sorte, wie sie sich in der letzten Zeit häuften. Zwei ihrer Kolleginnen waren nicht erschienen. Wie so oft war die anstehende Arbeit nur durch Überstunden zu bewältigen gewesen. Tamara hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und hatte eine Viertelstunde lang auf dem Stationsgang herumgeschrien, bis es Dr. Hoover, Elaine und Keelin gelungen war, sie in das Arztzimmer zu befördern. Tamara war fertig. Sie würde wahrscheinlich nicht wiederkommen.
Keelin befürchtete, dass ihr selbst bald das Gleiche passieren würde. Im Moment lebte sie nur noch für das Krankenhaus, war nicht in der Lage, irgendein soziales Leben jenseits der Station zu führen – und während der Arbeit war schon gleich
gar
nicht daran zu denken. Seit Cannich hatte sie kein Fußballfeld mehr betreten. Ihr Körpergewicht hatte den Schwellenwert für Essstörungen durchbrochen und befand sich weiter im Sturzflug.
Inverness verwandelte sich langsam, aber sicher in einen Alptraum. Keelin konnte sich noch gut daran erinnern, wie glücklichsie hier in den ersten Wochen und Monaten gewesen war. Es war eine Flucht gewesen, weg von zu Hause, weg von den Erinnerungen, weg von den Eltern und vor allem auch weg von ihrem Bruder. Der Job im Krankenhaus hatte ihr anfangs Spaß gemacht, zum ersten Mal in ihrem Leben hatte sie sich
frei
gefühlt. Die Bezahlung war nie gut gewesen, doch da es ihr erstes regelmäßiges Gehalt war, kam sie damit zurecht. Sie stritt sich zwar manchmal mit ihren Mitbewohnerinnen, aber das war auch alles – niemand schlug sie, niemand bedrohte sie, und nachts brauchte sie keinen Schrank vor die Zimmertür zu ziehen.
Die Arbeit wurde jedoch immer schlimmer. Immer mehr Schwestern wurden entlassen, immer mehr krank. Diejenigen, die noch kamen, taten es aus Angst um ihren Arbeitsplatz und ließen sich bis auf die Knochen schinden. Frauen wie Elaine, die dem Job immer noch positive Seiten abgewinnen konnten, wurden weniger und weniger.
Mit der Stadt war es das Gleiche. Inverness konnte schön sein, im Morgennebel oder im Sommer bei Sonnenschein. Nun aber kam der Winter, die Tage wurden kürzer, und außerdem stank es überall nach diesem verfluchten Öl. Der Ölteppich hatte längst damit begonnen, das Hafenbecken zu verlassen und in die Stadt zu kriechen. Der Fischmarkt war inzwischen bei jedem Sturm
Weitere Kostenlose Bücher