Schattenkrieg
fehlte mir die Kraft, sie zu wirken.«
Inzwischen hatte der Zauberer auf dem Stein mehrere Pulverhäufchen aufgeschichtet. Er begann mit rauchiger Stimme zu singen, leise und falsch, mehr zu sich selbst als zu den versammelten Druiden. Aus einem der Päckchen hob er einen kleinen hölzernen Käfig, in dem eine Ratte aufgeregt auf und ab lief. Daneben legte er eine Sichel, deren Schneide fahl im Mondlicht glänzte.
Selma, die Keelins Unbehagen beim Anblick des Tiers zu spüren schien, erklärte: »Das Tier dient als Opfer. Es erleichtert Trevor, in Kontakt mit dem Adlergeist zu treten.«
Keelin fragte sich, ob bei den Kelten auch Menschenopfer üblich waren, doch ihr Geschichtswissen ließ sie im Stich. Für den Moment wagte sie nicht, diese Frage laut zu stellen.
Schließlich schienen die Vorbereitungen fertig zu sein. Die Druiden formten einen Halbkreis vor dem Altarstein, und Trevor bedeutete Keelin, in die Mitte zu treten. Mit pochendem Herzen tat sie wie ihr geheißen. Um sie herum folgten die Druiden mithalblauter Stimme dem Gesang des Zauberers. Trevor hielt eine brennende Kerze an eines der Pulverhäufchen, das sich knisternd und fauchend entzündete. Bald brannten auch die anderen. Ein schwerer, süßlicher Geruch machte sich breit.
Trevor sprach plötzlich mit lauter, beinahe klarer Stimme einige Worte auf Gälisch, die Selma zugleich mit leiser Stimme übersetzte: »Wir warten nun auf den Geist des Adlers, der über diese Länder wacht. Wir warten darauf, dass er diese junge Frau in unserer Mitte begrüßt. Ihr Name ist Keelin, und so soll sie auch weiterhin in unserer Gemeinschaft bekannt sein.«
Dann schwieg er und starrte in den Himmel, während die anderen Druiden seinen Gesang fortführten.
Schweiß trat auf Keelins Stirn. Sie wusste nicht genau, wie sich dieser Geist zeigen würde oder ob überhaupt; dennoch war ihr bewusst, dass dies ein äußerst bedeutungsvoller Moment war. Ihr Herz schlug schneller, und ihre Knie begannen zu zittern.
Es war etwa eine Minute vergangen, als Trevor plötzlich hastig den Deckel des Käfigs zur Seite schlug.
Ein lauter Vogelschrei ließ Keelin zusammenzucken. Im nächsten Moment fuhr ein mächtiger Adler auf den Altar nieder. Seine Klauen gruben sich tief in den Körper der Ratte und zerschlugen den Käfig, dessen Gitterstäbe in alle Richtungen davonflogen. Keelin, die noch nie zuvor einen Adler gesehen hatte, war überwältigt von der Größe und Schönheit des Vogels. Stolz faltete er die Flügel zusammen und wandte sich ihr zu.
Keelin hielt den Atem an, als sie der Adler mit einem in allen Regenbogenfarben irisierenden Auge fixierte. Ihr wurde bewusst, dass es für das Tier auf dem Altar ein Leichtes wäre, ihr hier und jetzt mit seinem mächtigen Schnabel die Kehle herauszureißen. Sie spürte seinen Blick, der durch Haut und Knochen direkt in ihr Inneres zu sehen schien, und betete, dass er nichts fand, was ihn ein schlechtes Urteil über sie fällen ließ.
Eine Ewigkeit schien zu vergehen, in der sie sich regungslos gegenüberstanden. Dann stieß der Adler noch einmal einen Schreiaus, bevor er majestätisch die Flügel ausbreitete und davonflog, die zerfetzte Ratte in den Klauen.
Trevor griff nach der Sichel und begann, das Blut der Ratte auf dem Altar zu verteilen. Das kratzende Geräusch, das die Sichelspitze auf dem Stein machte, drang ihr durch Mark und Bein. Es klang ein bisschen wie seine Stimme.
»Bormana und Lugh, Morrigan und Dagda«, übersetzte Selma, »helft mir, den Pfad dieser Druidin zu bestimmen, die nun in unsere Gemeinschaft aufgenommen ist. Helft mir, die Ahnen zu erwecken, die ihr die Druidenkraft verleihen!«
In monotonem Tonfall begannen die anderen zu sprechen:
»Lugh, Fürst der Götter!
Scheine auf sie herab und beleuchte ihren Pfad!
Bormana, Mutter des Stammes!
Schenke ihr Gesundheit und Fruchtbarkeit!
Morrigan, Herrin des Krieges!
Schenke ihr einen starken Arm und einen scharfen Willen!
Dagda, Fürst der Toten!
Nimm sie in dein Reich zu ihrer Zeit!«
Sie stimmten einen neuen Gesang an, diesmal mit voller Kraft. Keelin verstand das Gälische nicht, aber
etwas
in ihr erkannte die Melodie, das Lied, den Text, weil es ihn schon hundert Male gehört hatte und hundert Male selbst gesungen. Und plötzlich brandeten Stimmen in ihr auf, tief in ihrem Inneren, die Stimmen, die sie schon vor den Schatten gewarnt hatten. Erinnerungen wurden wach, Erinnerungen, die Jahrhunderte und Jahrtausende währten. Auf
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