Schattenkrieger: Roman (German Edition)
er auch selbst das Gefühl, weit von der Heimat entfernt zu sein, wenngleich Dorminia im Vergleich zu Shamaath höchstens einen Steinwurf weit weg war.
»Je mehr Land zwischen mir und der Heimat liegt, desto besser«, antwortete der Nachtmann. »Du stellst viele Fragen. Meine Zeit ist knapp bemessen, deshalb will ich weiteren Befragungen zuvorkommen und dir von mir aus alles erzählen. Dies hier«, sagte er, während er mit einer ausholenden Geste auf die feuchten, zerfallenden Wände zeigte, »wird für die nächsten zwei Wochen dein Heim sein.«
Wo sie auch waren, der Ort hatte nicht viel mit dem Thelassa gemein, an das Cole sich erinnern konnte. Die Wände aus Sandstein schienen alt zu sein, und es roch feucht und nach Verwesung. In Wandhaltern steckten Fackeln. Sie waren die einzigen Lichtquellen, die der junge Splitter entdecken konnte.
»Wo sind wir?«
»Tief unter der Erde«, erwiderte der Nachtmann. »In den Ruinen der Metropole, die sich hier erstreckte, ehe sie geschleift und Thelassa auf ihren Trümmern errichtet wurde. Es war die heilige Stadt, das Allerheiligste.«
»Das Allerheiligste?«
»Im Zeitalter des Streits und bevor die Magier sich aufschwangen, ihre Schöpfer im Himmel zu zerschmettern, war das Allerheiligste das Zentrum des Glaubens an die Große Mutter in diesem Land. Ihre Hohepriesterin beherrschte die Stadt voller Weisheit und Mitgefühl.« Er hielt einen Augenblick inne. »Das sagen uns jedenfalls die schriftlichen Überlieferungen. Man kann nie sicher sein, ob eine Behauptung stimmt, solange man die Beweggründe des Schreibers nicht kennt.«
»Warum wurde Thelassa auf diesen Trümmern errichtet? Das verstehe ich nicht.« Cole wurde seine mangelnde Bildung peinlich bewusst. Garrett hatte ihn aufgefordert, sich auf vielen verschiedenen Gebieten kundig zu machen, um ihn darauf vorzubereiten, dass er eines Tages das Kommando über die Splitter übernehmen würde, doch Cole war es rasch müde geworden, über den langweiligen Texten zu brüten. Er war ein Held und kein Gelehrter.
Der Nachtmann schürzte die Lippen. »Wer kann schon ahnen, was die Weiße Lady beabsichtigt? Vielleicht hat meine Herrin eine sentimentale Seite. Wahrscheinlicher ist aber, dass sie ihren Standpunkt verdeutlichen wollte. Wo könnte sie ihre Macht besser demonstrieren als auf den Trümmern des Glaubens, dem sie entsagte und den sie später vernichtete?«
Cole brauchte eine Weile, um die Worte des Nachtmannes zu verdauen. »Heißt das, die Weiße Lady war einst die Hohepriesterin der zerstörten Stadt?«
Der Mann seufzte. »Wir sollten nicht über diese Dinge sprechen. Die Weiße Lady duldet keine Debatten über die Vergangenheit. In dieser Hinsicht ist sie den anderen Magierfürsten ähnlich. Es steht weder dir noch mir zu, dies infrage zu stellen. Wir sind hier, um zu dienen.«
Blitzschnell zog der Nachtmann einen gekrümmten Dolch unter dem schwarzen, schenkellangen Umhang hervor und stürzte sich auf Cole. Der junge Splitter wollte sich abwenden und abrollen, um sich in Sicherheit zu bringen, doch der Shamaather war schnell wie eine zuschlagende Kobra. Der dunkelhäutige Mann trat Cole die Beine weg. Ehe er sich’s versah, lag Cole auf dem Rücken, und die Dolchschneide des Nachtmannes kitzelte ihn am Hals.
»Man sagte mir, du seist ein erfahrener Kämpfer«, meinte der Shamaather. Es klang ein wenig enttäuscht. »Wir haben viel Arbeit vor uns.«
Cole zuckte zusammen. Nach dem Aufprall auf den Boden tat ihm der Rücken weh, aber der verletzte Stolz schmerzte noch viel mehr. »Ich war nicht vorbereitet«, protestierte er. »Was meinst du damit, dass wir noch viel Arbeit vor uns haben?«
Der Nachtmann ließ den Dolch in einem Ärmel verschwinden. Die Bewegung war so schnell und elegant, dass Cole sie kaum bemerkte. Dann reichte der Krieger aus dem Süden dem jüngeren Mann die Hand und zog ihn hoch.
»Du wirst im kommenden Kampf gegen Dorminia die Geheimwaffe der Weißen Lady sein.«
Geheimwaffe? Cole gefiel sehr, was er da hörte. »Fahre fort«, sagte er.
»Der Dolch, den du dummerweise verloren hast – ich glaube, er hieß Magierfluch. Er ist das Einzige, was Salazars Niederlage sicherstellen kann. Es gibt nur einen Mann, der diese Waffe gegen den Magierfürsten führen kann.« Er schwieg einen Augenblick. »Dieser Mann bist du.«
Coles Herz machte einen Sprung, die Erregung berauschte ihn. »Ich wusste es!«, rief er. »Alle die Schmerzen und das Leiden … das alles sollte mich auf diese
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