Schattenkrieger: Roman (German Edition)
wenig, was Cole als Ermunterung auffasste.
»Mein ganzes Leben lang bin ich auf Vorurteile gestoßen. Andere wären darüber längst sehr verbittert. Ich habe das jedoch immer als Herausforderung betrachtet. Als Hindernis, das es zu überwinden galt. So war es auch, als ich der jüngste Splitter in der Geschichte wurde.« Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn Sasha war mit siebzehn zu der Gruppe gestoßen und daher ein paar Monate jünger gewesen als er, doch sie war ein Mädchen und zählte deshalb nicht.
Dreifinger regte sich abermals und gab ein Knurren von sich, das verdächtig nach einem Furz klang.
»Habe ich dir schon von Sasha erzählt? Sie hat Augen, in denen du dich verlieren könntest. Ich habe gleich von Anfang an gewusst, dass sie die Richtige ist.«
Er ließ den Blick über die Stadt wandern. Weit unten flackerten Fackeln wie Glühwürmchen, und aus dieser Höhe war kaum zu erkennen, was sie überhaupt beleuchteten. Hier und dort erhoben sich andere Türme aus der Dunkelheit und zielten wie gespenstische Finger auf die Sterne. Einen Moment lang glaubte Cole, in der Ferne Schreie zu hören. Er legte den Kopf schief und lauschte aufmerksam, doch nun war alles still.
Er seufzte. Es machte ihm schwer zu schaffen, dass er auf diesem Turm festsaß. »Wenn ich eines Tages nach Dorminia zurückkehre, werde ich Sasha sagen, was ich für sie empfinde«, verkündete er. »Sie ist nicht wie die anderen Mädchen. Ich glaube, in ihrer Kindheit ist ihr etwas zugestoßen. Sie ist nicht leicht zu gewinnen, aber mit der Zeit werde ich gewiss ihr Herz erobern.« Er musste grinsen. »Es braucht schon ein Mädchen wie Sasha, um einen Mann wie mich in Schach zu halten.«
Dreifinger drehte sich endlich um und sah ihn an. Der Kopf war unter dem Mantel verborgen, aber die Stimme klang gereizt. »Ich kann dein dummes Gerede nicht mehr ertragen, Junge. Hör auf damit.«
Cole runzelte die Stirn. »Ich versuche nur, die Langeweile zu vertreiben. Vielleicht solltest du mal aufstehen und deine Beine strecken. Du liegst doch schon seit Stunden so gekrümmt da.«
»Was nützt das? Es gibt hier doch sowieso nichts zu sehen.«
Etwas beschäftigte Cole schon die ganze Zeit. Er beschloss, dass jetzt der richtige Augenblick war, um es zur Sprache zu bringen. »Weißt du noch, was die Weiße Lady gesagt hat? Dass du ein Vergewaltiger wärst? Das ist nicht wahr, oder? Die Wache hat doch diese Beschuldigungen nur erfunden, oder?«
Dreifinger starrte ihn jetzt an, seine Mundwinkel zuckten leicht. »Natürlich ist es nicht wahr. Komme ich dir vor wie ein Mann, der so etwas tut?«
Cole runzelte nachdenklich die Stirn. »Nein, so kommst du mir nicht vor.«
»Also gut. Das wäre dann geklärt.« Dreifinger streckte einen Finger der verstümmelten Hand aus und bohrte ausgiebig im Ohr herum, zog den Finger heraus und betrachtete die Ausbeute. »Schlaf etwas, Junge.«
In dieser Nacht wurde das Wetter schlechter. In dem böigen Wind klapperten Cole die Zähne. Er wärmte sich mit Gedanken an Sasha und ihr Wiedersehen. Wenn er nach Dorminia zurückkehrte, hatte er ihr, Garrett und den anderen einiges zu erzählen. Wann immer dies geschehen würde.
Am folgenden Abend holten ihn die Wärterinnen.
Das Metallgitter im Dach bewegte sich ein Stück zur Seite. Cole beobachtete es verdrossen, weil er mit einem mageren Essen und einem Krug Wasser rechnete, die durch das Gitter geschoben wurden, doch dann ging die stählerne Luke ganz auf, und zwei bleiche Dienerinnen der Weißen Lady stiegen auf das Dach. Ihnen folgte eine dritte Gestalt, deren Kapuze das Gesicht vollständig verhüllte.
Die größere der beiden Frauen hatte einen dunklen Metallkragen mitgebracht, an dem eine Gliederkette befestigt war. »Du kommst mit«, sagte sie nur.
Coles Aufregung verschwand wie die Pisse in der Latrine, als er das Gerät anstarrte. »Erst will ich wissen, wohin ihr mich bringt.«
Die kleinere Frau starrte ihn an. Wie bei allen anderen Dienerinnen der Weißen Lady waren auch ihre Augen gespenstisch leer und verrieten keinerlei Gefühl. »Du wirst keine Fragen stellen«, sagte sie.
»Hab keine Angst«, warf die Gestalt mit der Kapuze ein. Es war eine Männerstimme, doch ihr Besitzer flüsterte samtweich, wie es nur die wirklich bösen Schurken zu tun vermögen. »Die Weiße Lady hat Pläne mit dir. Man wird dir nichts tun.«
Dreifinger drehte sich um und suchte den Blick der Besucher. »Und was ist mit mir?«
»Du bleibst hier.«
»Verdammt auch,
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