Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schattenkuss

Schattenkuss

Titel: Schattenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Loehnig
Vom Netzwerk:
heraus und setzte sich damit aufs Bett. Ein Sammelsurium aus Fotos, Kinokarten und Zetteln kam zum Vorschein. Eine Aufnahme zeigte zwei Mädchen. Eine pummelige Dunkelhaarige und eine große Blonde, die Lena bekannt vorkam. Klar, das musste Ulrike sein, ihre Tante, die damals wohl etwa so alt gewesen war, wie Lena heute, ein bisschen älter vielleicht. Lena drehte das Bild um. Ein Aufdruck des Fotolabors befand sich darauf: 02/06/1990. Wieder betrachtete Lena die Fotografie. Dabei fiel ihr auf, dass sie ihrer Tante ähnlich sah. Haarfarbe, Gesichtsform und auch die Statur glichen sich. Mit dem Foto in der Hand stellte Lena sich im Bad vor den Spiegel. Wie Lena hatte auch Ulrike grüne Augen und volle Lippen, natürlich ohne Narbe. Lenas Haar war etwas heller und länger, Ulrike hatte ihres in einem fransigen Stufenschnitt getragen. Ein eigenartiges Gefühl kroch in Lena nach oben. Tante Marie hatte sie verwundert gemustert, als sie sich vor ein paar Tagen das erste Mal seit acht Jahren wiedergesehen hatten, und auch Florians Vater hatte sie ziemlich irritiert angeguckt. Daran lag das also.
    Plötzlich war Lena sauer. Sie hatte eine Tante, von der sie nicht nur bis vor ein paar Tagen nichts gewusst hatte, sondern der sie dazu auch noch verdammt ähnlich sah, und ihre Eltern hatten es in den letzten Jahren nicht ein einziges Mal für nötig gehalten, diese Person ihr gegenüber zu erwähnen. Wie Ulrike wohl als Jugendliche gewesen war? Nachdenklich blickte Lena auf das Foto in ihrer Hand. Die etwa siebzehnjährige Ulrike lachte herausfordernd in die Kamera. Cool wirkte sie, selbstbewusst und offen. Ein Mädchen, das es gewohnt war, im Mittelpunkt zu stehen. Einen Moment lang spürte Lena so etwas wie Neid. Dann schüttelte sie entschieden den Kopf. Das war nur ein Foto. Sie hatte keine Ahnung, wie ihre Tante wirklich gewesen war. Sie wollte das Bild schon in die Schachtel zurücklegen, als sie auf einmal innehielt. Ein Gedanke blitzte plötzlich auf, ein ziemlich ungewöhnlicher, verrückter Gedanke. Wäre es nicht spannend, sich für ein paar Tage in Ulrike zu verwandeln? In ihre Rolle zu schlüpfen, sich entsprechend umzustylen? Lena grinste bei der Vorstellung, was Steffi wohl dazu sagen würde, und wunderte sich über sich selbst. Veränderungen waren eigentlich nicht so ihr Fall. Allzu viel würde sie allerdings nicht ändern müssen. Und vielleicht würde der Aufenthalt in diesem Kaff dadurch sogar einigermaßen erträglich werden … Je länger sie darüber nachdachte, desto reizvoller erschien Lena die Idee. Und plötzlich wusste sie auch, wobei ihr diese Verwandlungsaktion außerdem helfen würde. Das ist es! Das ist das Thema für meinen Dokumentarfilm. Wer ist Ulrike Beermann und weshalb hat sie sich mit ihrer gesamten Familie verkracht?
    In Ulrikes Zimmer nahm Lena die löchrige Jeans, ein T-Shirt und ein blau-grün kariertes Holzfällerhemd aus dem Schrank und zog sich um. In der Kommode fand sie Doc Martens und eine alte Sonnenbrille. Ray Ban. Cool. Die Schuhe saßen perfekt.
    Im Schlafzimmerspiegel musterte sie das Ergebnis. Klasse. Nur die Frisur passte nicht. Aber das war zu ändern. Fünf Minuten später verließ sie das Haus. Der Regen hatte beinahe aufgehört. Es tröpfelte noch ein wenig. Zielstrebig marschierte Lena in die Dorfmitte. Wenn sie sich richtig erinnerte, befand sich zwischen der Bäckerei und dem Ärztehaus ein Friseur.
    Die Kirchturmuhr schlug zwei, als Lena den Coiffeur Wenger wieder verließ. Sie betrachtete den neuen Haarschnitt noch einmal kritisch im spiegelnden Schaufenster. Die Investition hatte sich gelohnt. Sie sah aus wie ihre Tante vor zwanzig Jahren. Die Sonne kam zwischen den Wolken hervor. Lena zog Ulrikes Ray Ban aus dem Rucksack und setzte sie auf. Und nun?
    Während Lena noch überlegte, öffnete sich die Tür des Ärztehauses und Babette Leitner, Florians Oma, kam heraus. An der Hand führte sie die Uroma, die aufgeregt auf ihre Tochter einredete. »Bevor wir fahren, muss ich noch zur Schneiderin. Ich brauche ein Reisekostüm und der Josef einen leichten Anzug. Baumwolle oder Leinen. In Kons­tantinopel ist es heiß.«
    »Was du jetzt brauchst, ist ein Mittagsschlaf.« Babette Leitner zog die alte Frau hinter sich her. Als sie Lena entdeckte, blieb sie abrupt stehen. Erschrocken, beinahe fassungslos starrte sie sie einen Moment an, dann sanken ihre Schultern herab. »Findest du das lustig, Lena? Ja? Wenn deine Oma dich sehen könnte … Schämen solltest du dich.«

Weitere Kostenlose Bücher