Schattenkuss
Anschließend rollte sie sich herum und bat Florian, ihr beim Rücken zu helfen. Er nahm die Flasche mit Sonnenmilch und malte Rebecca einen Creme-Smiley auf den Rücken, den er liebevoll verrieb, während sie kicherte, er würde sie kitzeln.
Na toll! Lena griff nach dem Camcorder, schob ihn zwischen sich und die Wirklichkeit.
Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Daniel neben ihr Platz genommen hatte. Erst als er fragte, ob sie auch einen Schokoriegel wolle, nahm sie ihn wahr. »Gerne.« Sie entfernte die Folie, biss hinein und dachte: Frustfraß.
5
Nachts ging ein Gewitter über Altenbrunn nieder. Der Regen fiel in dichten Schleiern, Blitze zuckten in der Dunkelheit, Donner rollte über Dorf und See, als kündige er den Weltuntergang an. Wie in der Nacht zuvor trat Lena ans Fenster. Tiefschwarz lag die Dunkelheit über dem Garten. Der Wind heulte durch die Bäume, rüttelte an den Dachziegeln der Häuser und der Schuppentür im Garten der Leitners. War da jemand? Ein Blitz erhellte für den Bruchteil einer Sekunde die Finsternis. Da bewegte sich doch etwas in den Büschen! Lena hielt den Atem an. Ein Funkeln zwischen den Blättern. Eine Katze kam unter dem Jasminstrauch hervorgeschossen, duckte sich, jagte über die Wiese und verschwand ums Hauseck. Lena atmete erleichtert durch. Sie hatte entschieden zu viel Fantasie.
Erst gegen Morgen schlief sie ein. Als sie erwachte, war es schon kurz nach elf. Das Gewitter war vorbei, aber es regnete noch immer. In feinen Fäden liefen die Tropfen am Fenster hinab.
Lena schwang sich aus dem Bett und ging in die Küche. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Bitte räum die Küche endlich auf! Bin beim Friedhofsgärtner. Steffi.
Eine benutzte Kaffeetasse stand in der Spüle und auf der Ablage neben dem Kühlschrank lag eine Tüte vom Bäcker. Sie enthielt ein Brezenstangerl und ein Croissant. Lena machte sich eine Tasse Tee und frühstückte. Als die Kirchturmuhr zwölf schlug, war Steffi noch nicht zurück. Lena stapelte das schmutzige Geschirr neben dem Spülbecken und ging dann in ihr Zimmer.
Gestern war Steffi erst nach zehn Uhr gekommen. Sie sei mit Sternberg essen gewesen, hatte sie erklärt, und es sei absolut nichts dabei. Schließlich sei sie hier aufgewachsen und habe mit ihm Kindergarten, Grundschule und Gymnasium besucht. »Wir sind seit Kindertagen befreundet. Mehr nicht, falls dich das beruhigt«, hatte sie gesagt. Lena glaubte ihr kein Wort. Für einen Sandkastenfreund stylte man sich nicht auf wie für die Oscar-Verleihung.
Sie duschte und nahm sich vor, heute endlich mal ihre Mails zu checken. Ob es in Altenbrunn ein Internetcafé gab? Bisher hatte Lena keins gesehen. Und im Haus ihrer Oma gab es natürlich weder WLAN noch einen Internetanschluss mit Kabel. Sie seufzte, schloss den Laptop, stöpselte den Camcorder vom Ladegerät ab und beschloss, das Problem auf später zu vertagen. Solange Steffi weg war, würde sie sich erst mal ein bisschen im Haus ihrer Großeltern umsehen. Im Wohnzimmer lagen einige Postkarten auf dem Couchtisch. London, Kreta, Barcelona. Das waren also Ulrikes Karten, von denen Tante Marie gesprochen hatte.
Hallo Daheimgebliebene, ich melde mich, damit sich niemand Sorgen macht. Mir geht es gut. Das Geld ist knapp, deswegen jobbe ich zurzeit in einem Kaufhaus. Gruß Ulrike.
Der Poststempel war vom 12. August 2008. Nicht gerade eine aktuelle Nachricht, aber offenbar die neueste.
In Omas Schlafzimmer ging Lena nicht. Das war Steffis Refugium. Im Zimmer nebenan hatte Lukas geschlafen. Lena trat ein und erst jetzt wurde ihr klar, was sie eigentlich in den ganzen letzten Tagen schon hätte erkennen können. Das war ein Mädchenzimmer. Ulrikes Zimmer. An den Wänden hingen Poster von Bands. Lena las die Namen. Die meisten sagten ihr nichts. Sinead O’Connor. Depeche Mode, Prince, Billy Idol. Popsteinzeit. Daneben ein Filmplakat. Der Club der toten Dichter .
Ein einfaches Bett und ein Schreibtisch aus Kiefernholz. Aus demselben Material Kleiderschrank, Kommode und ein Regal, das mit allerlei Aufklebern verziert war. Im Schrank hingen Ulrikes Klamotten. Mensch Oma, das ist ganz schön schräg, dachte Lena. Hast du zwanzig Jahre darauf gewartet, dass Ulrike wiederkommt und dann diese Uralt-Klamotten anzieht? Never!
Obwohl? Lena besah sich die Kleidungsstücke. Manche waren durchaus tragbar. Vor allem die Jeans, die an Oberschenkeln und Knien mehrfach aufgerissen war. Auf dem Boden des Schranks stand eine bunt beklebte Schachtel. Lena nahm sie
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