Schattenkuss
dir. Du bist anders als andere Mädchen in deinem Alter. Du bist keine, die gerne im Mittelpunkt steht. Stimmt’s?«
Lena schüttelte den Kopf. Was ja nun falsch war. »Das heißt Ja. Du hast recht. Ich ziehe mich lieber zurück, bin eher eine Beobachterin. Und außerdem bin ich furchtbar harmoniesüchtig.«
»Das klingt, als würde dir beides nicht gefallen. Hättest du gerne mehr Streit und mehr Aufmerksamkeit?«
Lena lachte. »Streit ganz sicher nicht, wie gesagt: harmoniesüchtig. Aber manchmal habe ich das Gefühl, dass es schon besser wäre, wenn ich auch mal die Fetzen fliegen lassen könnte und um etwas kämpfen würde. Obwohl … in letzter Zeit klappt das schon viel besser.« An den gestrigen Streit mit Steffi wollte sie jetzt eigentlich auch nicht denken.
Der Grashalm strich jetzt sanft wie eine Feder über ihren Hals. Lena schauderte. »Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass die Leute, die ständig im Mittelpunkt stehen, wenig von dem mitbekommen, was um sie herum passiert? Sie sind häufig zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich persönlich finde die Beobachterrolle viel spannender. Beobachter nehmen ihre Mitmenschen ganz anders wahr. Sie setzen sich mit ihnen auseinander, erkennen Zusammenhänge, die einem vom Scheinwerfer Geblendeten verborgen bleiben.«
»Hm.« Lena runzelte die Stirn. Benno hatte das Talent, im richtigen Moment genau das Richtige zu sagen. »Stimmt!«
»Na klar stimmt das!« Benno zog den Grashalm zurück und beugte sich über sie. Er küsste sie so vorsichtig und zärtlich wie am Tag zuvor und Lena vergaß jeden Zweifel und alle Gewissensbisse, die sie bis eben noch bedrängt hatten. Das hier fühlte sich einfach zu gut an. Sie küssten sich eine halbe Ewigkeit lang, dann löste Bennos Mund sich von ihrem und unternahm eine kleine Wanderung. Den Hals hinunter bis zu dieser kleinen Mulde zwischen den Schlüsselbeinen. In Lenas Bauch begannen tausend Schmetterlinge zu schwirren, während sie seine Hand spürte, die sich unter das T-Shirt schob und sich bis zum Rand des BHs vortastete. Er zog sie jedoch sofort wieder zurück und setzte sich auf. »Entschuldige.«
Lena öffnete die Augen und fühlte Enttäuschung. Was gab es da zu entschuldigen? Obwohl, es ging vielleicht doch ein wenig schnell. Sie hatte ja überhaupt null Erfahrung, und wenn er jetzt weitermachte … und sie dann zu unerfahren fand … und wie war das eigentlich mit der Verhütung …
Über Bennos Gesicht glitt ein Lächeln, sein Zeigefinger strich über ihre Stirn. »Tausend und ein Gedanke. Ich sehe sie förmlich durcheinanderpurzeln.« Das Lächeln verschwand. Sein Gesicht wurde ernst. »Ich würde gerne mit dir schlafen. Irgendwann. Wenn du es auch willst.«
Lena schloss die Augen. Auf dem Weg hierher hatte sie sich so fest vorgenommen, sich nicht in ihn zu verlieben. Und nun erschien ihr das plötzlich unmöglich.
Sonntag, 3. Juni 1990
Der Sonntag war schnell vorübergegangen. Es wurde dämmrig. Vermutlich lag das an den Wolken, die sich grau am Himmel ballten. Es regnete schon seit Stunden. Ulrike lag auf ihrem Bett und starrte die Wand an. Das Klappern des Geschirrs drang bis nach oben in ihr Zimmer. Ihre Mutter machte Abendessen. Ihr Vater hatte heute Dienst bis zwanzig Uhr. Busfahrer und Postbotin. Ulrike träumte von einem anderen Leben. Vielleicht würde sie Schauspielerin werden. Dafür brauchte man kein Abitur. Oder Schriftstellerin. Oder Sängerin.
Demnächst würde der Brief von der Schule kommen. Manz, ihr Klassenlehrer, hatte sie vorgewarnt. Mist. Mist. Mist. Papa wird durchdrehen. Weshalb glaubte er, ohne Abi sei man nichts? Aber es war egal, weshalb er das glaubte. Er glaubte es! So wie er an Gott glaubte und die Unbefleckte Empfängnis. Ulrike würde ihn nie und nimmer bekehren können . Mist! Mist! Mist! Er wird durchdrehen. Sie musste den Brief verschwinden lassen.
Und dann?
Irgendwann würde er die Wahrheit erfahren, spätestens am letzten Schultag, wenn es Zeugnisse gab. Bis dahin waren es allerdings noch ein paar Wochen. Zeit, sich etwas einfallen zu lassen.
Erleichtert drehte sie sich auf den Rücken und stöhnte dabei auf. Es tat noch weh. Von wegen, er würde ganz vorsichtig sein.
Irgendwie hatte sie sich das erste Mal anders vorgestellt, obwohl doch alle sagten, dass es wehtat.
Trotzdem war es auch schön gewesen und so romantisch. All die Kerzen und Rosenblätter und der Champagner, den er aus dem Weinkeller seiner Eltern stibitzt hatte. Allerdings hatte sie
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