Schattenkuss
davon zu viel getrunken. So viel, dass sie bis zum Mittag geschlafen hatte und die Kopfschmerzen erst jetzt langsam nachließen. So gesehen war es eigentlich ganz gut, dass Mike heute keine Zeit für ein Treffen gehabt hatte … ach, Mike! Sie sehnte sich so nach ihm. Sicher war er jetzt schon wieder in München, in seinem Studentenheim und lernte. Prüfungen standen bevor und die wollte er mit Bestnote bestehen.
Er ist so ehrgeizig. Ganz im Gegensatz zu mir, dachte Ulrike. Lernen war nun mal nicht ihr Ding.
Ob Mike an sie dachte? Unwillkürlich musste sie lächeln. Und ob er an sie dachte! Schließlich hatte er sie gebeten, ihren Slip als kleine Erinnerung mit in seine Studentenbude nehmen zu dürfen. Was allerdings zur Folge gehabt hatte, dass Ulrike ihre Jeans ohne etwas drunter hatte anziehen müssen, denn der Bikini war noch feucht gewesen, als Mike sie heimfuhr.
Regen tropfte auf das Fensterblech. Die Kirchturmuhr schlug sieben. Das Matheheft lag auf dem Schreibtisch. Ulrike drehte sich auf die andere Seite. Sie hatte absolut keine Lust, jetzt Mathe zu machen, geschweige denn für die alles entscheidende Schulaufgabe am Mittwoch zu lernen. Dieses Ruder war nicht mehr herumzureißen. Der Kurs stand auf Klassenziel nicht erreicht und damit musste sie die Schule verlassen. Das Blöde daran war allerdings, dass sie nun die Zehnte zum zweiten Mal nicht schaffte. Was bedeutete, dass sie gar keinen Schulabschluss hatte, denn die mittlere Reife erhielt man nur dann automatisch, wenn man die Zehnte erfolgreich beendete. Papa wird ausflippen.
Und Steffi wird sich wieder sonnen können. Die tolle Steffi, die immer gute Zensuren erhielt, ohne dafür viel tun zu müssen. Abi mit einem Schnitt von 1,3. Streberin. Als sie ihr Abi-Zeugnis erhalten hatte, war ihr Vater fünf Zentimeter über der Erde geschwebt und hatte im ganzen Dorf mit seiner intelligenten Tochter angegeben.
Steffi, die immer alles tat, was von ihr erwartet wurde, die spießige C&A-Jeans trug und Schuhe, die nicht mal Oma anziehen würde. Die nicht rauchte und auch nicht in die Disco ging. Stattdessen sah sie Nouvelle-Vague- Filme, hing in jeder freien Minute über ihren Literaturwissenschaft-Ordnern, diskutierte mit ihren Freunden über Camus und Kafka und machte derart auf intellektuell, dass man am liebsten kotzen würde. Fehlte nur noch, dass sie schwarze Rollis trug und am besten eine Baskenmütze dazu. Spätestens am Ende des Schuljahrs würde sie felsenfest auf einem Sockel stehen, der nicht zu stürmen war, denn, verdammt noch mal, sie würde Papas einzige Tochter mit Abitur bleiben.
Vielleicht sollte sie doch Mathe lernen. Ulrike setzte sich auf, fühlte aber im selben Moment Kraftlosigkeit in sich aufsteigen. Mathe war ein Morast, in dem sie während der letzten Monate langsam versunken war. Die Pampe stand ihr längst bis zum Hals.
No way out!
Der Regen tropfte noch immer auf das Fensterblech. Plopp. Plopp. Plopp.
Auf der Treppe waren Schritte zu hören. Mama kam nach oben, ging durch den Flur. Mit einem Satz hechtete Ulrike zum Schreibtisch, schlug das Heft auf und griff nach dem Kuli.
Als ihre Mutter eintrat, saß sie über ihre Hausaufgaben gebeugt. »Ach, du lernst noch. Immer fleißig.«
Ulrike sah auf. Ihre Mutter trug eins dieser geblümten Kleider, die sie wie sechzig aussehen ließen. Dabei war sie erst Mitte vierzig. In der Hand hielt sie eine kleine Schachtel aus rotem Lackpapier. Eine Schleife war darum gebunden. »Das stand vor der Tür.«
»Für mich?«
Ihre Mutter nickte.
Ulrikes Herz machte einen Satz. Sie sprang auf, riss ihrer Mutter das Schächtelchen aus der Hand und wartete, bis sich die Tür hinter ihr schloss. Mike war so süß!
Mit fliegenden Fingern entfernte sie die rosa Schleife, auf die er mit Filzstift Für Ulrike geschrieben hatte, und hob den Deckel ab.
Was war das denn?
Ein Stein und eine Klappkarte kamen zum Vorschein. Sie nahm beides heraus. Die Unterseite des Steins fühlte sich feucht an. Ulrike legte ihn beiseite und erschrak. An ihren Fingern klebte Blut. Während sie ungläubig darauf starrte, wurde ihr übel. Würgend lief sie ins Badezimmer, schluckte die Übelkeit runter und wusch sich die Hände.
Mit wackligen Knien kehrte sie in ihr Zimmer zurück. Nie und nimmer hatte Mike ihr das geschickt. Wer aber dann? Und warum? Auch auf der Karte war ein Blutfleck. Mit spitzen Fingern faltete Ulrike sie auseinander, las, fuhr zusammen und pfefferte die Karte in die Schachtel. Was sollte
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