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Schattenkuss

Schattenkuss

Titel: Schattenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Inge Loehnig
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zugleich und mit Sperrmüllmöbeln eingerichtet. Durch die kleinen Fenster drang nur wenig Licht. Auf dem Herd köchelte etwas in einem Topf. Es roch nach Gemüsesuppe. Odakota öffnete die Ofenklappe des Herdes. Feuer brannte dahinter. Er warf einen Scheit Holz hinein und wies dann auf einen Kiefernholztisch, an dem vier Stühle standen. »Setzt euch.« Sie nahmen Platz. Lena schaltete den Camcorder ein. Hoffentlich genügte das Licht. Sie überlegte, wie sie beginnen sollte. »Sie haben Ulrike gekannt und waren mit ihr befreundet …«
    Odakota lachte. Es klang bitter. »Befreundet. Du bist gut.« Mit der Hand fuhr er sich über die Augen. »Weißt du, was ein Baschert ist?«
    Lena hatte keine Ahnung, doch Daniel nickte. »Ist das nicht ein Begriff aus dem Jüdischen?«
    Odakota nickte.
    »Ich glaube, es bedeutet so viel wie Gegenstück oder Seelenverwandter«, meinte Daniel.
    »Zwei Teile, die ein Ganzes ergeben. Das bedeutet es. Und das waren Ulrike und ich. Sie war mein Baschert und ich ihres. Wir waren füreinander bestimmt. Aber es ist nur noch eine Hälfte übrig.«
    Lena zoomte sein Gesicht näher heran. »Dann glauben Sie also … dass Ulrike tot ist?«
    »Natürlich ist sie tot. In jener Nacht, in der sie angeblich davongelaufen ist, ist sie gestorben.«
    »Woher wissen Sie das?«, fragte Daniel.
    Odakota wandte sich Daniel zu, im Display erschien sein Profil. »Ich habe gespürt, wie die Verbindung zu ihr abgerissen ist. Das war spät in der Nacht. Vielleicht eine Stunde, nachdem sie sich bei mir ausgeweint hatte.«
    Lena stutzte. »Sie haben mit Ulrike gesprochen, bevor sie davongelaufen ist?«
    Er blickte direkt in den Camcorder. Seine Augen waren braun wie die Stämme der Eichen, die Kappen der Steinpilze, braun wie die Erde. »Das Il Cappuccino hieß früher Casablanca und war der Treffpunkt der Dorfjugend. Dorthin ist Ulrike gekommen, nachdem ­Mike ihr den Laufpass gegeben hatte. Wobei … Sie waren nie wirklich zusammen. Ulrike glaubte das zwar. Aber ihm war es dabei nur um eine Wette gegangen. ­Mike hatte mit seinen Kumpels gewettet, er würde …« Odakota starrte eine ganze Weile schweigend an die Wand. Lena wartete und auch Daniel schwieg.
    Für einen Moment schloss Odakota die Augen und sprach dann direkt in die Linse von Lenas Camcorder: »Er hat gewettet, er würde Ulrike ins Bett bekommen. Ulrike hat sich bei mir ausgeheult. Ich habe sie getröstet und dann ist sie gegangen. Sie wollte weg, nach München und von dort weiter nach Berlin. Aber sie ist nicht über die Dorfgrenze hinausgekommen.«
    Lena war nicht so einfach bereit, Odakotas Gedankenleserei und telepathische Fähigkeiten für bare Münze zu nehmen. Trotzdem ging sie auf seine Behauptung ein. Was war seiner Meinung nach passiert, nachdem Ulrike das Il Cappuccino verlassen hatte? Odakota zuckte die Schultern. Er wusste nur, dass die Verbindung zwischen ihm und Ulrike in jener Nacht vor zwanzig Jahren von einer Minute auf die andere abgerissen war. »Manchmal träume ich von ihr. Das sind keine schönen Träume. Wenn ich aufwache, bin ich jedes Mal sicher, dass ihr jemand Gewalt angetan hat.« Er erzählte, dass er versucht hatte, Ulrikes Eltern davon zu überzeugen, dass ihrer Tochter etwas zugestoßen war. Doch sie hatten ihn nicht ernst genommen. Als dann die Postkarte aus Griechenland kam und die Polizei sie für echt erklärte, hatte Oliver aufgegeben, hatte sich in dieses Häuschen zurückgezogen und sein Leben geändert. »Ich will nichts mehr mit diesen Spießbürgern zu tun haben. Bigotte und verlogene Menschen sind sie! Alle denken nur an Konsum, Konsum und noch mal Konsum. Jeder kümmert sich nur um sich selbst. Keiner denkt mehr an den anderen. Jeder nur an sich. Ein Mädchen verschwindet und man nimmt das hin. Unsere Gesellschaft tickt falsch. Tick, tack, tick, tack.« Odakota redete sich zunehmend in Rage. Feine Spucketropfen regneten auf den Tisch und eine Welle schlechten Atems zog über den Tisch. »Es ist eine Minute vor zwölf. Doch die meisten definieren sich weiter über Besitz und Geld. Was für ein Fehler! Welche Verblendung!« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. Mit fuchtelnden Händen redete er weiter, seine Stimme überschlug sich fast. »Sie rackern sich ab, als ob es der Sinn des Lebens wäre zu schuften, Überfluss zu produzieren und dann die Hälfte wegzuwerfen. Das ist gegen die Natur. Das zerstört sie. Macht alles kaputt. Tick, tack, tick, tack.«
    Lena und Daniel standen ebenfalls auf.

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