Schattenkuss
Nichts wie weg hier. Im Regal neben dem Herd lagerten etliche Päckchen Mehl und Reis, Nudeln und Haferflocken, Dosen mit Gemüse- und Obstkonserven. Gläser voller Marmelade, Honig und Kompott. Holte er das tatsächlich alles aus dem Müll?
Bevor Lena ging, wollte sie noch eine letzte Frage loswerden. »Wissen Sie, wo ich diesen Mike finden kann?«, unterbrach sie Odakotas Redefluss.
Er stutzte und lachte dann schnaubend.
»Oder Crossi. Wie heißt der eigentlich richtig?«
Wieder lachte Odakota und winkte dann ab. »Ich mische mich nicht mehr ein.«
Lena ließ nicht locker. »Sie kennen Mike und Crossi also.«
»Natürlich. Aber ich werfe keine Steine mehr ins Wasser. Am Anfang sind die Wellenkreise, die dadurch verursacht werden, vorhersehbar. Doch das ändert sich schnell.«
»Eine Frage noch.« Lena hob den Camcorder. »Sie waren in Ulrike verliebt, doch sie hat Mike vorgezogen. Waren Sie nicht eifersüchtig?«
»Doch. Natürlich. Anfangs. Aber wie gesagt: Ulrike war mein Gegenstück. Früher oder später hätte sie zu mir zurückgefunden.«
»Obwohl sie wegwollte, nach Berlin? Wie hätte das funktionieren sollen?«
Odakota hob die Schultern und breitete die Arme aus. »Ich weiß es nicht. Und jetzt wäre ich gerne wieder allein. Besuch bin ich nicht gewöhnt.«
Auf dem Weg zur Tür fiel Lena etwas auf, dass sie stutzen ließ. Auf einem abgewetzten Sofa stand eine offene Schokoladenpackung mit grau angelaufenem Inhalt. Es waren Schoko-Crossis.
Vor der Tür blieb Odakota stehen. Lena fiel das Lederband auf, das er am Handgelenk trug. Zwei Glöckchen waren daran befestigt. Glöckchengeklingel … das hatte sie doch neulich im Garten der alten Villa gehört. Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen, ein kühler Schauer durchlief sie. Beobachtete er sie?
»Das ist ein Talisman«, erklärte er, als er Lenas Blick bemerkte. Dann sah er ihr in die Augen. »Du bist nicht feig. Trotzdem: Pass auf dich auf. Lass Ulrikes Sachen besser im Schrank. Sonst weckst du vielleicht eine schlafende Bestie.«
20
Sie fuhren mit den Rädern am Waldrand entlang bis zu einer Bank und setzten sich. Lenas Handy begann, in der Tasche der Shorts zu vibrieren. Sie zog es heraus. Eine SMS von Benno. Du fehlst mir. Unwillkürlich musste sie lächeln.
»Von deinem Freund?«, fragte Daniel.
Lena nickte und schob das Handy zurück, während Daniel sich bückte und einen Grashalm pflückte, von dem er feine Streifen abriss. »Odakota war also in Ulrike verliebt, genau wie Crossi. Doch sie hatte nur Augen für den Einzigen, der nichts von ihr wollte: für Mike. Und der wettete dann, dass er sie in die Kiste kriegen würde? Was ist das denn für eine Wette? Ich meine, das dürfte kein Problem gewesen sein.« Daniel ließ den Grashalm fallen. »Ist dir auch aufgefallen, dass Odakota gestockt hat, als es um die Wette ging?«
Lena nickte. »Clara hat mir von den Wetten erzählt. Mike und seine Freunde machten das häufig. Wer kriegt welches Mädchen ins Bett? Echt ekelhaft.« Sie erzählte Daniel auch von den verschärften Bedingungen für Mike, den Casanova, der angeblich zwei Mädchen gleichzeitig verführt hatte.
»Odakota hat gezögert … Ich glaube nicht, dass er uns die Wahrheit gesagt hat. Vielleicht ging es bei der Ulrike-Wette um etwas anderes.« Den nächsten Grashalm ereilte das Schicksal seines Vorgängers.
»Ich frage mich, ob man ihm glauben kann. Hast du die Schachtel Schoko-Crossis gesehen? Vielleicht ist er Crossi.«
Daniel sah auf und zuckte mit den Schultern. »Eine Million Leute essen das Zeug. Und Odakota isst, was er findet und was noch genießbar ist. Wahrscheinlich Zufall.« Grüne Fädchen, fein wie Haare, segelten zu Boden. »Komisch«, murmelte Daniel. »Normal bin ich ein Fan der Vernunft. Physik, Chemie, Mathe. Alles, was sich nachweisen und berechnen lässt, das ist mein Ding. Und trotzdem glaube ich Odakota irgendwie, dass er fühlen kann, dass Ulrike tot ist. Blöd. Oder?«
Daniel war wirklich nett. »Gefühle kann man auch erforschen und nachweisen. Die Neurowissenschaftler sind damit ziemlich weit«, meinte Lena lächelnd. »Außerdem gibt es Fakten für die Annahme, Ulrike könnte tot sein.«
»Na, dann lassen Sie die mal hören, Frau Hauptkommissarin.« Daniel grinste, warf das, was vom Grashalm übrig geblieben war, zu Boden und pflückte ein Gänseblümchen.
Lena lehnte sich zurück. »Erstens: Ulrike hat sich nur bei ihren Eltern gemeldet, nicht bei ihrer Freundin. Ist doch
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