Schattenkuss
wer wo im Urlaub gewesen war. Wer mit wem im Streit lag. Steffi hatte angerufen, sie käme erst zum Abendessen, erzählte Mama. Sie hatte den Zug verpasst. Ulrike war das ziemlich egal. Wo blieb nur Mike?
Der Nachmittag verstrich und ging in den Abend über. Die Tische wurden abgedeckt und neu eingedeckt, schon bald türmten sich Salat und Soßen, Brot und Fleisch darauf.
Kurz vor sechs kam Steffi. Wie erwartet im Intellektuellen-Look. Graues Sackkleid. Brille mit schwarzem Rand, die Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Sie sah bleich aus und angespannt. Nachdem sie die Begrüßungsrunde absolviert hatte, nahm sie Ulrike beiseite. »Ich muss mit dir reden. Können wir in dein Zimmer gehen?«
Was sollte das? Hatte Steffi etwa Probleme? Sah ganz so aus. Und die wollte sie jetzt mit ihrer kleinen Schwester besprechen? Ausgerechnet. »Okay?«
Sie gingen nach oben. Ulrike schloss die Tür und blieb im Raum stehen. »Was ist los?«
Mit einer Hand massierte Steffi die Nasenwurzel. »Ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll … Wo du doch so für Mike schwärmst.«
Etwas, das sich wie ein Eisberg anfühlte, rammte sich in Ulrikes Magen. Was hatte Steffi mit Mike zu tun? »Schwärmen? Spinnst du? Ich schwärme doch nicht für Mike …«
Steffis Gesichtszüge entspannten sich erleichtert.
»Er ist mein Freund. Ich gehe mit ihm«, klärte Ulrike ihre Schwester auf.
»Was?«
»Er ist mein Freund«, wiederholte Ulrike geduldig. »Vor zwei Wochen haben wir miteinander geschlafen. Und heute Nacht werden wir das wieder tun.«.
Steffis Gesichtsfarbe wechselte von Blässe zu Wutrot. An ihrer Stirn trat eine Ader hervor. »Du bist eine so gottverdammte Lügnerin. Ich zerbreche mir seit sechs Wochen den Kopf, wie ich dir möglichst schonend beibringe, dass Mike und ich ein Paar sind. Ich schlage mir die Nächte um die Ohren, habe ein furchtbar schlechtes Gewissen, weil ich weiß, wie sehr du ihn anhimmelst, und du … du erfindest einfach mal wieder eine deiner Lügengeschichten, ganz wie es dir in den Kram passt. Das ist so dreist von dir! Aber jetzt reicht es, Ulrike!«
Fassungslos starrte Ulrike ihre wutschnaubende Schwester an. Was hatte Steffi gerade gesagt? In ihrem Schädel hallte das Wort Paar nach, aber es ergab keinen Sinn.
Wo war Mike? Er wollte doch kommen.
An der Haustür klingelte es. Ulrike erwachte aus ihrer Starre, riss die Tür auf und lief die Treppe hinunter.
Papa öffnete bereits. Mike! Endlich! Sie lief ihm entgegen, fiel ihm um den Hals. Doch er schob sie zurück und blickte dann über ihre Schulter. Auf der Treppe stand Steffi. »Hast du etwa schon mit ihr gesprochen? Das wollte doch ich machen.«
Was? Ulrikes Beine wollten wegsacken. In den Ohren rauschte das Blut.
»Weiß jemand, wo die Grillanzünder sind?«, fragte Papa, als habe er nicht kapiert, welche Tragödie sich gerade in seinem Haus zutrug. »Ich kann sie nirgends finden.« Er zog eine Kommodenschublade nach der anderen auf. Dann stutzte er. Irgendwie war das nicht gut, Ulrike fiel nur nicht ein, weshalb.
»Was ist das?« In der Hand hielt er den Brief, den Brief, der Steffi zur endgültigen Siegerin machte.
24
Tom hatte im Wohnzimmer auf der Couch geschlafen, Steffi oben in Omas Schlafzimmer. Die beiden benahmen sich wie in einem schlechten Film. Wenigstens war Tom nicht zurück nach Stuttgart gefahren. Den Tag über war Lena ihnen aus dem Weg gegangen und erst zum Abendessen nach Hause gekommen.
Nun saßen ihre Eltern noch immer in der Küche, obwohl das Essen längst beendet war. Ihre Stimmen drangen gedämpft durch die Wand in Lenas Zimmer, die dort auf dem Bett lag und an die Decke starrte. Wenigstens reden sie miteinander, dachte Lena. Es war ein schwacher Trost. Und noch ein anderer Kummer nagte an ihr. Benno meldete sich einfach nicht. Vielleicht war das ganz gut so. Wenn Lena ihre widersprüchlichen Gefühle beiseiteschob und ihren Verstand einschaltete, gingen lauter rote Ampeln an. Er ist zu alt. Er könnte dein Vater sein. Er ist verheiratet. Das kann nie und nimmer gut gehen. Vielleicht war es wirklich besser, es endete, bevor es richtig begann.
Und doch sehnte sie sich so sehr nach ihm, noch immer. Und war gleichzeitig wütend, weil er sie auf so billige Art bestrafte, indem er einfach nicht anrief. Und dann tat es ihr wieder leid, dass sie ihn so brüsk zurückgewiesen hatte, und sie ärgerte sich im selben Moment über seine … wie hatte Daniel ihn genannt? Einen Egozentriker. Sie ärgerte sich
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