Schattenkuss
du nun machen?«
Lena wusste es nicht. »Keine Ahnung. Am besten, ich gebe Ruhe.« Eine verfallene Mühle am Ufer des Baches kam in Sicht. Das Holz war verwittert, das Dach eingefallen, das Mühlrad stand still.
»Wollen wir dort Rast machen?«, schlug Daniel vor.
Warum nicht? Lena nickte. »Okay.«
Sie lehnten die Räder an die Wand und setzten sich auf ein Holzbrett, das über den Bach führte. Unter ihren Füßen lief das Wasser hurtig über Steine dahin. Lena holte die Flasche mit Apfelschorle und die beiden Schokoriegel aus dem Rucksack. Dabei sah sie – zum wievielten Mal heute? – auf das Display ihres Handys. Kein Anruf von Benno. Keine SMS von ihm. Kein Ich vermisse dich . Sie hatte ihn gekränkt.
Daniel bemerkte ihre Enttäuschung. »Stress mit deinem Freund?«
Lena nickte.
»Schlimm?«
»Geht so.«
»Rebecca sagt, ich sei ein guter Zuhörer.« Daniel riss die Folie vom Schokoriegel. »Wenn du also jemanden zum Quatschen brauchst …«
Sie konnte unmöglich mit Daniel über Benno reden. Meistens half es ihr allerdings, wenn sie ihre Sorgen und Probleme in Worte fasste. So verloren sie an Gewicht und wurden greifbarer. Und Daniel war ein Freund. »Wir kennen uns noch nicht so lange und er ist älter als ich … er hat mehr Erfahrung …« Sie konnte doch unmöglich mit ihm über Sex sprechen.
»Er will mit dir ins Bett und du weiß nicht, ob du das auch willst?«, fragte Daniel kauend.
»Ich will schon, aber noch nicht jetzt.«
»Und nun ist er sauer?«
»Sieht ganz danach aus. Er hat einfach aufgelegt … vielleicht war auch das Netz plötzlich weg. Aber das war heute Morgen. Er hätte längst anrufen können.«
»Schieß ihn in den Wind.«
Überrascht schnappte Lena nach Luft.
»He. Ich meine, er will mit dir schlafen, du willst nicht … noch nicht, und er ist sauer und lässt dich zappeln und macht dir ein schlechtes Gewissen, indem er toter Mann spielt. Was ist denn das für ein Egozentriker?«
Ganz schön hart formuliert, dachte Lena. Aber leider nicht so ganz unwahr. Vielleicht tat sie Benno aber auch unrecht. Vielleicht war der Akku leer oder er kam einfach nicht dazu anzurufen, weil er … Ja was? Er liebte sie doch! Und dazu gehörte nun mal auch Sex. Aber doch nicht so schnell, nach ein paar Tagen. Sie kannten sich ja kaum. »Er liebt mich …« Lena zog die Schultern hoch.
»Wenn er dich wirklich liebt, dann wartet er auch.« Daniel schob die Folie des Schokoriegels in die Hosentasche. »Ich würde jedenfalls meine Freundin nicht so unter Druck setzen.«
»Du hast eine Freundin?« Lena war überrascht.
»Momentan bin ich solo.«
Lena fiel das Gänseblümchen ein, dessen Blütenblätter er einzeln abgezupft hatte. »Aber verliebt?«
Daniel zuckte mit den Schultern. Was ungefähr alles bedeuten konnte, von ja bis weiß nicht oder geht dich nichts an .
Anscheinend wollte er darüber nicht reden, denn er fing wieder mit Ulrike an. »So wie ich dich kenne, wirst du weiter nachforschen. Ich könnte mit jemandem von der Zeitung reden. Letztes Jahr habe ich dort ein Praktikum gemacht. Vielleicht weiß einer der Journalisten, weshalb Odakota aus dem Rennen ist. Ich meine, es ist ein Unterschied, ob jemand nicht vor Gericht gestellt werden kann, weil es keine Beweise gegen ihn gibt, aber einen starken Verdacht, oder ob seine Unschuld erwiesen ist.«
Daniel schätzte sie vermutlich ganz richtig ein. Irgendwie konnte Lena sich nicht vorstellen, dass sie wirklich die Finger von der Sache lassen würde. Deshalb nahm sie sein Angebot an.
Als sie kurz nach sechs heimkam, war Steffi wieder einmal nicht zu Hause. Lena fütterte Becky, die auf dem Liegestuhl auf der Terrasse lag, als habe sie dort stundenlang gewartet, und brachte dann die stinkende Mülltüte hinaus. Als sie den Deckel des Mülleimers schloss, sah sie einen silberfarbenen Kombi die Straße herunterkommen. Lenas Herz machte einen Satz. Tom!
Er fuhr gleich in die offen stehende Garage und stieg aus. »Na, Töchterchen. Alles im Lot?« Er umarmte sie und öffnete dann die Heckklappe, nahm seine Reisetasche und eine Flasche Champagner heraus.
»Wahnsinn! Tom! Sag nur, du hast die Stelle gekriegt!«
»Am ersten Oktober fange ich an. Ich dachte, das feiern wir drei heute Abend.« Er schloss das Garagentor und ging ins Haus. Lena folgte ihm. Scheiße, von Steffi keine Spur.
»Ist Steffi nicht da?«, fragte Tom prompt.
Lena nuschelte irgendwas von Erbschein und Nachlassgericht und dass Steffi vermutlich bald kommen
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