Schattenkuss
würde.
»Bis dahin koche ich uns was Schönes.« Tom sah in den Kühlschrank. »Okay. Erst gehe ich einkaufen.«
»Ich decke inzwischen den Tisch.«
»Prima. Auf der Terrasse, oder? Und nimm Omas gutes Geschirr und die Kristallgläser. Irgendwo hat sie auch Silberbesteck. Das musst du vermutlich erst putzen.«
Tom verschwand mit dem Einkaufskorb in der Hand. Er wirkte aufgedreht und glücklich. Kaum war die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen, schrieb Lena Steffi eine SMS. Tom ist da. Er hat den Job und will feiern. Dann suchte sie nach Geschirr und Gläsern.
Eine Stunde später stand Tom am Herd und Lena putzte Silberbesteck. Der Tisch sah richtig festlich aus. In Omas Leuchtern aus Bauernsilber steckten cremefarbene Kerzen, neben den Tellern lagen Leinenservietten, der Champagner war gekühlt und in der Küche duftete es nach Lamm und Rosmarin.
Wer immer noch fehlte, war Steffi. Hatte sie denn die SMS nicht gelesen? Lena zog das Handy aus der Tasche. Keine Nachricht. Weder von Benno noch von Steffi.
Die Terrassentür stand offen. Das Röhren des Porsches konnte man bis in die Küche hören. Verdammt! Sternberg brachte Steffi nach Hause.
Lena musste sie warnen. Sie ging durch die Küche in den Flur und öffnete die Haustür.
Davor stand Steffi mit Sternberg. Er hielt sie im Arm und küsste sie auf den Hals. Beide fuhren in dem Moment auseinander, in dem Lena die Tür öffnete.
Sie starrte ihre Mutter an, wie eine Erscheinung, bis hinter ihr Schritte erklangen. Tom. Er hatte das auch gesehen. Ohne nachzudenken, floh Lena in die Küche. Sie fühlte sich auf einmal leer und kraftlos.
Einen Moment später kam auch Tom herein. Er war ganz bleich. Wortlos schaltete er den Herd ab und den Ofen aus. Dann ging er auf die Terrasse, nahm die vier Ecken der Tischdecke und raffte sie wie einen Beutel zusammen. Gläser, Teller und Besteck purzelten klirrend durcheinander. Ratlos stand er so einen Augenblick, dann ließ er alles fallen und ging durch die Küche in den Flur und die Treppe nach oben. Eine Tür knallte. Lena fing an zu heulen.
Samstag, 16. Juni 1990
Ulrike lungerte im Vorgarten herum und zupfte ein wenig Unkraut aus der Rabatte. Reine Tarnung. Von der Schulsekretärin hatte sie vor einigen Tagen erfahren, dass die blauen Briefe freitags verschickt wurden. Das war gestern gewesen. Also musste ihrer heute eintrudeln. Gut, dass der alte Michi Schulz die Post austrug und nicht ihre Mutter. Die hatte heute frei und werkelte seit dem Morgengrauen in der Küche. Die Vorbereitungen für Papas fünfzigsten Geburtstag liefen auf Hochtouren. Tante Marie polierte Gläser und bügelte Tischdecken. Mama buk Kuchen und verzierte Torten. Papa baute im Garten Tische auf und für abends den Grill. Eigentlich sollte Ulrike Kartoffelsalat machen, aber vorher musste sie den Brief verschwinden lassen. Wo blieb nur der Michi? Sie lugte über den Gartenzaun und entdeckte ihn. Er stand vor dem Nachbargrundstück und ratschte mit dem alten Leitner. Sicher wieder über dessen Lieblingsthema, eine Reise mit dem Orientexpress. Das konnte dauern. Ulrike ließ das Unkraut Unkraut sein und ging hinüber. »Morgen, Michi. Hast du Post für uns?« Der Alte wandte sich um, griff in die Tasche, die auf der Ablage des gelben Postrades festgeschnallt war, und zog ein Bündel Briefe heraus. »Sag Deinem Vater einen schönen Gruß von mir und alles Gute.«
»Mach ich.« Ulrike griff nach dem Bündel und entdeckte sofort den blauen Umschlag. Er lugte zwischen etlichen weißen Kuverts hervor, die garantiert alle Glückwunschkarten enthielten.
Daheim angekommen, spähte sie vorsichtig ins Haus. Ihre Mutter war in der Küche, Tante Marie im Esszimmer und Papa sicher noch im Garten. Ulrike legte die Post im Flur auf die Kommode, nur den blauen Brief behielt sie. Sie wollte gerade damit nach oben in ihr Zimmer gehen, als ihr Vater aus der Küche kam. Shit! Der Rock, den sie trug, hatte keine Taschen. Hastig zog sie eine Kommodenschublade auf und stopfte den Brief zwischen Schals, Mützen und Handschuhe. Eigentlich ein super Versteck. Vor dem Winter würde niemand dort hineingucken.
»Solltest du nicht den Kartoffelsalat machen?«, fragte ihr Vater.
»Ich habe die Post reingeholt.« Sie drückte ihm den Stapel in die Hand. »Alles für dich und einen schönen Gruß vom Michi und alles Gute.« Dann verschwand sie in der Küche und begann, einen Berg von Pellkartoffeln zu schälen. Sie waren so heiß, dass Ulrike sich die Finger verbrannte. Und
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