Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan
Hirschgeweih als Symbol für die alte Kaiserstadt zugelassen?“ Frau Ito versteht gar nicht, warum ich mich über die ästhetischen Abwege der japanischen Symbolwelt so aufrege. „Das ist doch niedlich!“, meint sie, als ich noch der Vollständigkeit halber singende Regentropfen und Zeitung lesende Vögelchen aufzähle. Aus besagtem Wohnzimmerschrank zieht sie eine Reihe von quietschbunten Schlüsselanhängern hervor, allesamt Souvenirs von Schulausflügen der Kinder und Mitbringsel diverser Verwandter. Sogar Hello Kitty grüßt einmal aus Shikoku, der Pilgerinsel, und ein weiteres Mal aus Kyoto. Ich gebe mich geschlagen, für die modernen Maskottchen dieses Landes bin ich wohl zu konservativ.
Wesentlich stilvoller finde ich die alten Familienwappen der Japaner, die manchmal noch die Ärmel der Kimonojacken dezent verzieren oder auf Festivals die Zugehörigkeit zu einem Stadtviertel auszeichnen. Hier finden sich neben Insekten im Jugendstil stilisierte Schriftzeichen und Landschaften. Besonders begeistere ich mich dabei für den einen, unverkennbar japanischen Berg, den Fuji.
Endlich bin ich mir mit Frau Ito einig: Der perfekt kegelförmige Vulkan genügt, um ganz Japan zu repräsentieren. Nach ihm ist eine Apfelsorte benannt, mehrere Firmen, ein Fernsehsender und eine Rennstrecke. Sogar einem Musikstil in Afrika gibt er seinen Namen. Nicht zu vergessen die Holzdrucke von Hokusai und Hiroshige, die ihn in der ganzen Welt bekannt machten. Schon die Ureinwohner Japans, die Ainu, verehrten den Fuji als Sitz der Götter. Heute machen sich in der kurzen Saison vom Juli bis August an die 200 000 Menschen auf den Weg zur eisigen Spitze, ein Drittel davon sind übrigens Ausländer. Die meisten Besucher versuchen, einen Sonnenaufgang mitzuerleben, ein mystisches Erlebnis, auch für die pragmatische Frau Ito. „Als Studentin sind wir mit unserm Wanderclub auf den Fuji gestiegen. Das war wirklich unvergesslich.“ So ganz kommt halt kein Japaner von der Vorstellung los, dass seine Heimat das Land der Götter sei. Interessanterweise erlebt der Fuji regelmäßig in wirtschaftlich schlechten Zeiten einen Boom. Dann besinnt man sich wohl auf seine Wurzeln und sucht das Gemeinschaftsgefühl, und wenn es nur der überfüllte Schlafsaal kurz vorm Gipfel und das Gedrängel auf dem Trail nach oben ist. „Aber ein zweites Mal mache ich das nicht noch mal mit“, sagt sie. „Kennen Sie nicht das Sprichwort: Ein Dummkopf ist, wer noch nie den Fuji bestieg. Ein noch größerer Trottel, wer sich zum zweiten Mal auf den Weg macht …“.
Frauen können sich hier erst seit der Moderne zum Trottel machen, vorher war ihnen der Zutritt zum Berg, wie zu so vielen anderen heiligen Orten des Shintoismus, gänzlich verboten. Ausländern erging es nicht viel besser. Als Mitglied der Royal Geographical Society ließ es sich Sir Rutherford Alcock, Japans erster britischer Konsul, 1860 nicht nehmen, als erster Nicht-Japaner den Fuji zu besteigen. Ihm haben wir es übrigens zu verdanken, dass der Berg lange Zeit im Westen als Fujiyama 5 bezeichnet wurde.
Es wird Zeit aufzubrechen. Ich überlasse Frau Ito meinen Schlüssel und schreibe ihr noch Telefonnummern für den Notfall auf. Sie wünscht mir für die Reise alles Gute und zweifelt laut, ob Schildkröte und Blumentöpfe ihre Fürsorge überstehen werden. „Was kann ich Ihnen denn nun mitbringen?“, frage ich an der Haustür, während ich in meine Straßenschuhe schlüpfe. „Oh, machen Sie sich keine Umstände, Christine-san. Wie wär's mit einem Dirndl?“
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1 Hanami, übersetzt etwa „Blumen schauen“, bezieht sich grundsätzlich auf das Bewundern der Kirschblüten, oft in Verbindung mit einem Picknick oder Saufgelage.
2 Tenno bedeutet übersetzt „Himmlischer Herrscher“. Die japanischen Kaiser nennen sich so seit dem 7. Jahrhundert.
3 Genaueres zur Verbindung zwischen Kaiserhaus und Shintoismus siehe Kapitel „Götter sind auch nur Menschen“.
4 Hinomaru bedeutet „Sonnenscheibe“, heute auch bekannt als Nisshoki.
5 Japaner nennen den Berg Fuji-san, das Anhängsel -san bedeutet hier Berg und ist nicht gleich der persönlichen Anrede „Herr/Frau Ito“ wie in Ito-san. Beide -san werden mit unterschiedlichen Schriftzeichen geschrieben, sind also für Japaner auf den ersten Blick zu unterscheiden. Das Berg-Schriftzeichen kann auch als -yama gelesen werden, aber dies niemals in Kombination mit einem Namen. Den Namen „Fuji“ benutzt man niemals einzeln, denn es
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