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Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan

Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan

Titel: Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Liew
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nicht provozieren und vermeiden Aufmerksamkeit, denn sie beschuldigen nicht die Gesellschaft für ihre Misere, sondern erst einmal sich selbst. Das macht es ihren Mitbürgern natürlich noch einfacher, sie schlichtweg zu ignorieren.
    Seitdem die Rezession in Japan zu einer Art Dauerzustand geworden ist und immer mehr Menschen auf der Straße leben, ist Wegschauen allerdings nicht mehr ganz so einfach. 2003, im Jahr der ersten offiziellen Erhebung, lebten rund 25 000 Japaner auf der Straße. Allein in Osaka sind heute über 10 000 Menschen ohne festen Wohnsitz (zum Vergleich: In Deutschland leben rund 20 000 Menschen ohne Unterkunft). Dies sind fast ausschließlich Männer im fortgeschrittenen Alter. Obdachlose Japanerinnen sind auch jetzt noch die große Ausnahme. Sie machen gerade mal drei Prozent aller Wohnungslosen aus. Drei von vier Frauen leben zudem mit ihren Ehemännern auf der Straße. Für sie gemeinsam gibt es keine Unterkünfte, also bevorzugen Paare ihr Provisorium am Wegesrand. Das Arbeitsamt, das offiziell den munteren Namen „Hello Work“ trägt, vergibt Stellen nur an Leute mit festem Wohnsitz. Nach längstens sechs Monaten Arbeitslosengeld beschränkt sich die Unterstützung der Tokyoer Stadtverwaltung auf das tägliche Verteilen von Kekspackungen. Dass die Zahlen der Obdachlosen trotz anhaltender Rezession nicht immer weiter steigen, hat Japan der Einrichtung zahlreicher Armenwohnheime zu verdanken. Langfristig bewahrt dies vor allem Frauen und Kinder vor dem Leben auf der Straße, sie erhalten meist zügig und ohne Fristen Unterstützung, während alleinstehende Männer im arbeitsfähigen Alter höchstens für zwei Monate einen Platz im Wohnheim beanspruchen dürfen. Neujahr 2009 wiesen Gewerkschaften und andere Organisationen auf diesen eklatanten Missstand hin, indem sie im Hibiya-Park in Tokyo über die Feiertage ein riesiges Zeltdorf für die Obdachlosen einrichteten. Die Jahresendzeit ist gewöhnlich die schlimmste Zeit der Nichtsesshaften. Die wenigen Unterkünfte schließen, die Beratungsstellen haben ebenfalls Ferien und verteilen keine Lebensmittel. 2010 reagierte die Metropolregierung und richtete allein für die Feiertage eine Notunterkunft für die Obdachlosen ihrer Stadt ein.
    Japanische Obdachlose werden in den Medien gerne als ehemalige Firmenangestellte dargestellt, die durch „Umstrukturierung“ ihren Arbeitsplatz verloren haben und auf Grund ihres Alters nicht mehr vermittelbar sind. Dieses Schicksal ist jedoch entgegen der landläufigen japanischen Meinung sehr ungewöhnlich. Es stimmt, der feste Arbeitsplatz bildet nur allzu oft den Mittelpunkt eines japanischen Lebens. Er garantiert auch alleinstehenden Menschen ohne tiefere private Bindungen ein geregeltes soziales Leben. Doch bei den meisten Obdachlosen war diese Einbindung in die Gesellschaft auch in ihrer Vergangenheit nicht vorhanden. Das Gros der heute Nichtsesshaften sind ehemalige Tagelöhner aus dem Gaststättenbereich oder der Baubranche. Ohne Versicherung und Rentenansprüche droht ihnen generell bei Krankheit und Arbeitslosigkeit schnell der Absturz in die Armut, der Verlust der Wohnung ist dann nur noch eine Frage der Zeit. Osaka ist davon besonders hart getroffen. So leben im berühmt-berüchtigten Viertel Kamagasaki auf einem Quadratkilometer 30 000 Tagelöhner und an die 3 000 Obdachlose. Das Viertel bietet seinen Bewohnern ein Gefühl von Zugehörigkeit, schafft aber auch neue Probleme. Illegale Wettbüros agieren hier ebenso offen wie Vertretungen der lokalen Mafia, die Polizei hat das Viertel schon lange aufgegeben. Bis zum Auftakt der Wirtschaftskrise Ende der Achtzigerjahre kamen in immer neuen Wellen junge und ungebildete Männer aus der unprofitablen Landwirtschaft oder ehemaligen Bergarbeiterregionen nach Kamagasaki, um hier auf dem Bau oder im Hafen gut bezahlte Arbeit zu finden. Tagelöhner, die sich in den Zeiten des Baubooms keine Sorgen um ihr Auskommen machen mussten, stehen nun im Morgengrauen an den Bahnhöfen und hoffen, wenigstens für ein paar Stunden unterzukommen. Kamagasaki gilt heute als Symbol der Kehrseite der japanischen Wirtschaft. Unzählige Hilfsorganisationen, darunter auch die Landeskirche Braunschweig, bemühen sich in Projekten, den alten und kranken Obdachlosen zur Seite zu stehen. Viele der ehemaligen Arbeiter des Viertels wohnten vormals kostenfrei in den Wohnheimen der Baufirmen, sie verloren mit der Arbeit also auch automatisch ihr Zuhause. Und das nicht nur in Osaka,

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