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Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan

Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan

Titel: Schattenlaeufer und Perlenmaedchen - Abenteuer Alltag in Japan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Liew
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zum Podium umfunktioniert. Einige Nachzügler treten aus dem Schatten der Büsche hervor und stellen sich mit den Wartenden schweigend in Reihen vor die Mini-Bühne. Auf ein Zeichen setzen sie sich auf den Boden. Jeder erhält noch eine Getränkedose und der Mann auf der Kiste beginnt zu reden. Ich überlege noch, warum kamen die aus den Büschen und nicht über die Kieswege?, da fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Dies sind die Bewohner des kleinen Zelt-und Pappbudendorfs, Obdachlose also, die sich inmitten der Parkanlagen ihr eigenes Reich geschaffen haben. Leider kann ich nicht recht verstehen, was der Mann auf der Kiste ihnen so wortreich mitteilt. Steht wieder mal ein Besuch der kaiserlichen Familie in einem der umliegenden Museen an? Dann heißt es für die Männer, einpacken und verschwinden. Alles, was nicht rechtzeitig vor der Ankunft der Hoheiten entfernt ist, wird von der Müllabfuhr abtransportiert. Ist der Kaiser wieder außer Sicht, dürfen die Menschen zurückkehren. Man wird ihnen neue Plastikplanen austeilen und sie können sich wieder einrichten. Ein Possenspiel, bei dem sich die Stadtverwaltung von Tokyo zähneknirschend dem Kaiserlichen Hofamt unterwerfen muss.
    Ich betrachte die Männer, wie sie still und ergeben auf Zeitungspapier sitzen, und schaue mich um. Überdeutlich sehe ich auf einmal die vielen Schattenbewohner vom Ueno-Park. All diese Menschen, die hier abseits der Hauptwege leben, von den meisten Besuchern werden sie gar nicht wahrgenommen. Anders als in Deutschland sehe ich keine Betrunkenen, keiner hadert hier lautstark mit seinem Schicksal.
    Andere Erinnerungen tauchen auf: Da war diese erbarmungswürdige Frau in Shinjuku. Mitten im Shopping-Mekka der Omote Sand ō – die Japaner nennen die Allee stolz „ihre“ Champs Elysées – saß sie zwischen ihren vielen Taschen und Tüten. Ihre Augen erinnerten mich an die eines Rehs, das von Autoscheinwerfern erfasst wurde und sich vor Schreck nicht rühren konnte. Diese Frau wäre sicherlich gerne vor den neugierigen Blicken der Passanten geflohen, aber sie konnte es nicht. Und so drehte sie sich einfach nur weg. Wie auch der Mann, der die Zeitschrift der Obdachlosen verkauft, als ich auf ihn zugehe. Es ist schwer, mit Obdachlosen ins Gespräch zu kommen. Anders als bei uns wollen sie jeder Aufmerksamkeit ausweichen, wollen unter keinen Umständen auffallen.
    Und dann sind da noch die endlosen Reihen von Zelten und Verschlägen entlang dem Fluss Tama. Fahrräder stehen vor den Buden, Wäscheleinen sind gespannt. Männer lesen in der Sonne Zeitung. Im Gegensatz zu der bettelarmen Frau wirken die Behausungen mit den himmelblauen Plastikplanen an schönen Tagen richtig wohnlich. An ihnen stören sich noch nicht einmal die Spaziergänger, die zum Betrachten der Kirschblüten am Fluss flanieren und die Bewohner der provisorischen Siedlung einfach übersehen. Die wiederum tun so, als sei es selbstverständlich, auf der Promenade zu wohnen. Herr Shimoda ist einer von ihnen. Letzten Monat wurde er 60, damit entspricht er dem durchschnittlichen japanischen Obdachlosen. „Ich wohne hier schon seit einigen Jahren“, sagt der ordentlich gekleidete Mann zurückhaltend. Warum das so ist, will er uns nicht sagen. Nach einigem Zögern beginnt er, ein wenig von seinem Alltag zu erzählen. „Anfangs lebten nur einige von uns gleich hier unter der Autobahnbrücke. Aber in letzter Zeit reicht der Platz dort nicht mehr aus und so verlängert sich unsere Siedlung immer weiter den Fluss runter.“ Mit seinen beiden direkten Zeltnachbarn hat Herr Shimoda eine Art Notgemeinschaft gegründet. „Wir teilen unser Essen und passen gegenseitig auf unsere Sachen auf. Tagsüber bleiben wir ja meistens hier, erst abends ziehen wir los. Ich suche dann erst mal alle Automaten nach Restgeld ab und sammle leere Getränkedosen. Aluminium und Altpapier lassen sich gut verkaufen. Essen bekommen wir von den 24-Stunden-Läden. Die achten sehr auf das Verfallsdatum, da gibt es eigentlich immer was für uns.“ Wir dürfen uns noch seine kleine Kochstelle anschauen und dann beendet Herr Shimoda unser Gespräch und verschwindet einfach in seiner sorgfältig gebauten Bude.
    Stärker noch als in Deutschland leben Obdachlose in Japan in einer unsichtbaren Parallelwelt. Sie sind wie Schattenläufer, die sich ungern der Gesellschaft zeigen. Sie versorgen sich weitgehend selbst, sie betteln nicht, sprechen niemals Passanten an und beschimpfen niemanden lauthals. Sie wollen

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