Schattenland - Begegnung mit Victor (German Edition)
Gesprächen ließ ich ihn ganz und gar an meiner Welt teilhaben. Vergaß ich aber deshalb, ihn nach seiner Welt zu fragen? Nein, das würde ich nie vergessen, wenn mir ein Mensch so viel bedeutete wie Victor. War es nicht Victor selbst, der den Fragen immer wieder gekonnt auswich, so dass ich’s lange Zeit gar nicht zu realisieren vermochte? Ich kannte ja noch nicht einmal so banale Dinge wie sein Zuhause. Das wenige, das ich über sein Haus wusste, kannte ich aus Bildern, die er mir gemailt hatte. So konnte ich wenigstens virtuell durch sein Haus gehen. Es musste sich um eine alte Jugendstilvilla handeln, in deren Garten etliche große Eichen und Kastanien eine Art Allee bis zur etwas erhöht gelegenen Steinterrasse bildeten. Über die Terrasse schien man Zugang zu einem wunderschönen hellen und großen Wohnzimmer zu haben, in dessen Mitte eine dunkelbraune Ledercouch zu erkennen war. Schräg gegenüber der Couch befand sich ein offener Kamin, vor dem ein braunes Fell lag. Im ganzen Haus war wohl ein dunkelbrauner Stäbchenparkett verlegt, die hohen Decken mit Stuck verziert. Im oberen Stock lag das Schlafzimmer, in dessen Mitte sich, durch eine Stufe erhöht, das große beige Bett befand. Auf dem Foto konnte ich erkennen, dass sich in der Nähe des Fensters eine freistehende weiße Badewanne befand. Ein letztes Foto zeigte einen spektakulären Blick aus dem Schlafzimmerfenster über ein kleines Wäldchen, talabwärts, an dessen unterem Ende ein kleines hellbraunes Backsteinhaus zu erkennen war.
Verflixt, wieso war Tina denn immer noch nicht da? Sie wusste doch, dass wir unbedingt vor Einbruch der Dunkelheit noch dort sein mussten. Wie sollten wir uns bei Dunkelheit in einer völlig fremden Gegend je vernünftig orientieren können? Es klingelte. Ich riss die Tür auf, begrüßte Tina kurz und zog sie auch schon in Richtung meines Autos.
„Hey Mia, was ist denn los? Hast du es so eilig?“
„Klar, Tina. Wir müssen unbedingt dort sein, bevor es zu dämmern beginnt, sonst haben wir noch weniger Chancen, das Haus zu finden! Also los, einsteigen! Unser Abenteuer kann beginnen!“
Ich hatte in den letzten Tagen die fixe Idee entwickelt, auf eigene Faust nach dem Haus zu suchen, in dem Victor lebte. Das einzige, was mir bei dieser Mission helfen konnte, waren die Fotos, im speziellen das Foto von dem kleinen auffälligen Backsteinhaus, das ganz in der Nähe seines Hauses talabwärts stehen musste und die knappe Aussage von ihm, dass er in der Nähe eines Naturschutzgebietes wohnte. So konnte ich das Zielgebiet wenigstens schon mal auf zehn Ortschaften begrenzen. Als ich Tina von meinem Plan erzählte, schien sie für einen kurzen Moment verständnislos den Kopf zu schütteln um mir in der nächsten Sekunde dann doch ihre volle Unterstützung zuzusagen. Mir war klar, dass die Chance, das Haus zu finden, verschwindend gering war, aber dennoch war es aus meiner Sicht einen Versuch wert.
Wir waren eine gute Stunde unterwegs, bis wir endlich das Zielgebiet erreichten. Zum Glück war es noch hell. Wir entschieden uns durch Zufallswahl für eine erste kleine Ortschaft. Nachdem wir so gut wie alle Straßen ohne Erfolg abgefahren hatten, verließen wir die Ortschaft in Richtung der nächsten Straßenkreuzung. Es begann bereits leicht zu dämmern. Diesmal überließ ich es nicht dem Zufall, welche Richtung wir einschlagen würden, sondern meiner Intuition. Ich hatte hier ein eindeutiges Gefühl, welches die richtige Richtung sein würde. Bis auf ein kleines Schmunzeln hielt sich Tina in diesem Augenblick sehr zurück. Sie war eben eine verdammt gute Freundin.
„Was meinst du, Tina? Glaubst du, dass wir das Haus tatsächlich finden werden, obwohl es gerade so aussichtslos erscheint? So langsam komme ich schon ins Grübeln und außerdem dämmert es bereits. Wir haben also nicht mehr viel Zeit.“
„Mia, ich hab keine Ahnung. Aber eins weiß ich genau. Verlass dich bitte auf deinen Instinkt. Du fühlst dich Victor so stark verbunden, dass ich tatsächlich daran glaube, dass du es spüren kannst, welches der richtige Weg ist.“
Sie hatte Recht. Im Laufe der letzten Monate hatte ich schon einige Male Dinge „gespürt“, die dann auch tatsächlich so eingetreten waren.
Wir fuhren eine schmale Straße entlang, die beidseitig gesäumt war von wunderschönen Birken. Verdammt, es wurde immer dunkler. Plötzlich spürte ich etwas; ein ganz eigenartiges Gefühl überkam mich, auf meinen
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