Schattenlord 1 - Gestrandet in der Anderswelt
Ruhe; sie wälzte einen Gedanken nach dem anderen - und vor allem hatte sie Angst. Ihr Leben war bisher vielleicht nicht unbedingt in geregelten Bahnen verlaufen, aber doch recht behütet und alltäglich. Der Flug auf die Bahamas war ein spontanes Abenteuer gewesen, das erste bisher, denn durch die von Regeln und Normen bestimmte Erziehung ihrer Eltern fiel es ihr nicht leicht, aus diesem … Spießertum, wie Zoe es genannt hatte, auszubrechen. Sie tat das, woran sie gewöhnt war, kam gar nicht erst auf die Idee, etwas »Verrücktes« zu tun. Ihre Haare und alles Weitere waren zunächst Ausdruck des Protests gegen die Eltern gewesen, bevor sie entdeckte, dass ihr dieses äußerlich neue Wesen gut stand und mehr von dem ausdrückte, wer sie wirklich war.
Aber wie sollte sie mit dieser Lage umgehen? So tun, als wäre nichts geschehen, wie die meisten Passagiere? Oder Dauernörgeln wie Zoe, Rimmzahn und Karys? Oder sollte sie ihre Angst ausleben? Sie war schließlich niemandem gegenüber verpflichtet - was also hielt sie zurück, einfach zu tun, was sie wollte, anstatt sich immer noch zu beherrschen?
Laura zuckte zusammen, als sie plötzlich jemanden weinen hörte. Sie erkannte die Stimme sofort: Es war die fünfzehnjährige Sandra Müller, und sie klang so herzzerreißend, dass Laura auf der Stelle aufsprang und zu ihr lief.
Sandra saß aufrecht, ihre Mutter hielt sie im Arm und wiegte sie, doch sie vermochte das Mädchen nicht zu trösten. Luca und sein Vater saßen hilflos daneben, streichelten Sandra ab und zu und wussten nicht, was sie tun sollten.
Nach und nach wurden auch andere wach und rückten mit besorgten Mienen näher. Niemand beschwerte sich über die Ruhestörung, ganz im Gegenteil.
Laura wagte sich direkt zu Sandra und ihrer Mutter. »Hey«, sagte sie leise und berührte ihren Arm. »Was ist denn? Bisher warst du doch so cool…«
Das Mädchen hob den Kopf und sah sie aus verheulten Augen an. »Siehst du es denn nicht?«, flüsterte Sandra und deutete zum Himmel. »Keine Sterne, kein Mond, nichts …«
Unwillkürlich blickte Laura nach oben, wie fast alle anderen auch. Ein kollektiver Schreckenslaut war zu hören.
»Ach was!«, erklang Rimmzahns harte Stimme. »Der Himmel ist bedeckt, das ist alles.«
»Sie ignoranter Blödian, soll ich Ihnen meine Brille geben?«, schnauzte ihn ein Mann an. »Da ist keine einzige Wolke zu sehen!«
Laura versuchte zu begreifen, was sie da sah. Der Himmel war keineswegs tiefschwarz, sondern schimmerte in einem merkwürdigen dunklen Violett. Und er war nicht bedeckt, sondern klar. Und rings um sie … Auch dieser merkwürdige Amethystsand leuchtete leicht. Es war Nacht, es war dunkel, aber nicht stockfinster.
»Das ist nicht so schlimm«, sagte sie zu Sandra. »Die Sterne fehlen gar nicht.«
»Ach wirklich?«, fiel eine Stewardess ihr ins Wort. »Diese Nacht birgt immer noch Schatten, in denen unheimliche Dinge geschehen können.«
»Und welche?«, fragte Laura angriffslustig. Solche Bemerkungen trugen nicht gerade dazu bei, Sandra zu trösten.
Dann erkannte sie die Frau; es war die mit den nicht spiegelnden Augen. Ausgerechnet von ihr kam so ein Spruch!
»Nur die Ruhe.« Jack Barnsby kam hinzu und baute sich wuchtig auf. »Wir sind hier völlig sicher. Hier gibt es nichts. Ist Ihnen denn die Stille noch nicht aufgefallen?«
Sandra blickte zu ihm auf und stellte die alles entscheidende Frage: »Wo sind wir? Wo gibt es so einen Himmel und so einen Sand, wo kann man keine Sterne sehen? Wo können wir gelandet sein, obwohl wir gar nicht weit geflogen sind?«
Niemand sagte etwas darauf. Nach und nach wandten die Menschen sich ab, wünschten sich nochmals eine gute Nacht und gingen wieder schlafen. Jack scharrte mit dem Fuß. Dann ging auch er.
»Versuch doch zu schlafen, Sandra«, forderte Laura das Mädchen auf. »Ich hab genauso eine Scheißangst wie du, und ich wäre überall lieber als hier, aber… da können wir jetzt nichts machen.«
»Denkt Zoe auch so?«, fragte Sandra und wischte sich mit dem Handrücken die Nase.
Ihre Mutter verdrehte die Augen. Das hatte wahrscheinlich schon einige Diskussionen gegeben. Aber ausnahmsweise war es ein gutes Stichwort.
»Schau doch hin.« Laura wies mit dem Daumen hinter sich. »Sie schläft tief und fest und ist damit schlauer als wir alle, weil sie morgen ausgeruht sein wird.«
Sandra beruhigte sich allmählich. »Bleiben wir zusammen?«
»Na, was denn sonst?« Laura hielt sich die Hand vor den Mund und
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