Schattenlord 1 - Gestrandet in der Anderswelt
Gesang und Tanz und Trance … und nein, kein Hühnerblut. Aber viele Kräuter und starkes weißes Zeugs zum Trinken.
Dann kam Milt in die Mitte des Kreises, zu der alten Frau. Sie legte eine Hand an seinen Kopf und eine an sein Herz, murmelte und sang, und auf einmal spürte das Kind, wie sich etwas in ihm löste und zu fließen begann. Gleich darauf konnte es frei und tief atmen, und es hörte seinen eigenen Herzschlag kräftig und ruhig.
Auch die Mutter bemerkte es; sie schlug die Hände vor den Mund und brach in Tränen aus. Milt lief auf die Mutter zu und fiel in ihre Arme, und sie drückte ihn so fest an sich, dass er beinahe wieder Beklemmungen bekam.
Keiner von beiden fragte, was geschehen war, sie waren einfach nur dankbar. »Hör zu«, sagte Milts Mutter zu der alten Frau. »Ich gebe dir jetzt Geld, aber das ist nicht alles. Wann immer du oder dein Dorf etwas braucht kommt zu mir. Ich werde euch helfen, es zu bekommen. Ich stehe auf ewig in deiner Schuld.« Damit verabschiedete sie sich.
»Meine Mutter zahlte großzügig und hoffte dabei dass die alte Frau nie mehr Anteil an unserem Leben haben würde, trotz ihres Angebots«, sagte Milt. »Sie verbot mir, jemals mit jemandem darüber zu sprechen. Dad war zuerst sehr wütend, aber als er sah, dass ich geheilt war, bekam er es mit der Angst zu tun. Wir haben nie wieder darüber geredet. Ich aber ging trotz des strengen Verbots meiner Eltern wieder ins Dorf. Ich war zwölf Jahre alt, und es trieb mich dorthin, mit einer Unruhe und gleichzeitig Gewissheit, dass ich genau da hingehörte. Die Alte erwartete mich, und so lernte ich die Obeah-Riten.«
»Du kannst also mit Geistern reden«, schlussfolgerte Zoe.
»Ja … gewissermaßen. Es ist nicht so sehr ein Dialog per Telefon, wie du vielleicht annimmst. Es sind mehr Gefühle, Bilder, Empathie. Schwer zu erklären.«
»Und was hast du jetzt mit diesem Hokuspokus vor?«
»Ich möchte die Geister um Hilfe bitten. Es gibt Schutzgeister, die könnten etwas für uns tun.«
»Hier. Zillionen Meilen von den Bahamas entfernt.«
»Aber das ist es ja gerade, Zoe. Die Geisterwelt ist genauso groß wie die Erde, so etwas wie eine … hm, übergeordnete Dimension, die uns umhüllt. Entfernungen und Zeit spielen dort keine Rolle. Wenn uns überhaupt jemand helfen kann, dann die Geister.«
Für einen Moment herrschte Schweigen.
»Laura, sag doch auch mal was dazu!«, zischte Zoe schließlich.
»Ganz ehrlich?«
»Ich greife nach jedem Strohhalm.«
»Ich dachte es mir. Du bist derselbe Spinner wie Milt! Ihr passt zusammen.«
»Das ist nicht wahr«, murmelte Laura.
»Es ist nämlich so, Milt«, führte Zoe weiter aus, »dass Laura mir auch ständig fantastische Geschichten erzählt. Sie hat von einem Mondelfen geträumt und einem ganz finsteren Wesen, das uns alle bedroht …«
»Ich weiß«, sagte Milt.
»Was weißt du?«, fragte Zoe irritiert.
»Laura hat eine besondere Aura«, erklärte Milt. »Ich kann das sehen. Sie ist ähnlich wie ich gepolt. Die Geisterwelt steht ihr offen.«
»Blödsinn!«, fauchte Zoe. »Laura ist eine Träumerin, aber ganz normal, im Gegensatz zu Inselspinnern wie dir. Deutsch, verstehst du? Wir haben keinen Platz für mystischen Humbug, bei uns Deutschen hat alles seine Ordnung.«
»Außerdem passiert mir immer was«, fügte Laura hinzu.
»Hast du dir schon mal überlegt, woran das liegt?«
»Hör auf, sie kirre zu machen, Milt! Am besten vergessen wir das gleich wieder. Die Wüstensonne bekommt uns allen nicht.«
Milt atmete einmal heftig ein und mit einem noch kräftigeren Stoß aus. »Zoe«, sagte er langsam. »Lass es mich versuchen. Ich glaube, dass ich es mit eurer Unterstützung schaffe. Und wenn nicht … entsteht daraus kein Schaden.«
»Da bin ich mir eben nicht so sicher.«
»Wenn du nicht daran glaubst, wie soll es Schaden bringen?«
Zoe schwieg verblüfft; Laura spürte, wie ihr Körper sich anspannte. Dann fiel ihr doch ein Argument ein: »Laura glaubt daran.«
»Dann soll sie entscheiden.«
»Ich bin dabei«, sagte Laura sofort. Alles war besser als diese Lage.
Zoe seufzte gedehnt. »Das war doch klar. Also schön ich mache mit. Ist auch egal. Aber lasst euch gesagt sein, dass ihr beide ein ernstes Problem habt und euch so schnell wie möglich in professionelle Hände begeben solltet, sobald wir wieder zurück sind.«
»Versprochen«, sagte Laura.
»Bah«, machte Milt. »Du hörst dich an wie meine Mutter.«
Sie pressten ihre Rücken eng aneinander,
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