Schattenlord 1 - Gestrandet in der Anderswelt
sich ob Milt jemals Angst gehabt hatte, sich zu verlieren. Aber wahrscheinlich war diese Frage überflüssig, da er schon als Kind damit begonnen hatte, seinen Geist vom Körper zu lösen und in einen anderen Zustand überzutreten.
Für Laura allerdings war das völlig neu, trotz all der seltsamen Dinge, die ihr Leben schon immer bereichert hatten. Vor allem war sie erstaunt, wie leicht es ging.
Vergnügt schwebte sie hinter dem Irrlicht her und erschrak, als plötzlich etwas Diffuses ganz nah an sie herankam, leise kicherte und sie berührte. Laura spürte einen elektrischen Schlag, der sich in einem Knall entlud, und sie taumelte zur Seite. Plötzlich spürte sie, wie sie eine unsichtbare Grenze überschritt, denn das Gefühl der Geborgenheit schwand schlagartig, und etwas anderes trat an seine Stelle.
Hastig schwang sie zurück, holte wieder zu dem Irrlicht auf. Als das diffuse Etwas ihr erneut nahe kommen wollte, wich sie ihm aus. Weg! Hau ab!
Kichernd beschleunigte der Geist und sauste davon.
Je höher sie stiegen, umso mehr Geister entdeckte Laura. Ruhig zogen sie unter ihr dahin; sie sah sie auch in Bäumen sitzen, wie Blumen erblühen.
Der unheimliche schwarze Turm jedoch war allgegenwärtig. Er rückte nicht näher, entfernte sich aber auch nicht.
Wem gehört dieser Turm?, fragte sie Milt.
Die Obeah-Priester erzählen verschiedene Versionen. Was bedeutet: Ich weiß es nicht, Laura. Aber ich bin sicher, dass es sich um ein sehr mächtiges Wesen handeln muss, das mehr ist als nur ein Geist. Die alte Frau hat zu mir gesagt, dass er einer der Ewigen sei, aber nicht immer dort residieren würde. Es ist jedenfalls besser, nicht zu viel darüber nachzudenken. Vergiss nicht, wir sind Menschen, wir können diese Dimension nur streifen, aber nicht steuern.
Immer höher ging es hinauf, bis sie wiederum in eine andere Sphäre einzutreten schienen, umgeben von wallenden farbigen Schleiern. Hier verhielt das Irrlicht.
Laura hörte, dass Milt etwas murmelte oder sang konnte es aber nicht verstehen. Bald darauf hatte sie das Gefühl, als ob sie nicht mehr allein wären. Sie vernahm ein Flüstern und Wispern, etwas zupfte an ihr.
Dann wusste sie nichts mehr.
Laura kam übergangslos zu sich, spürte augenblicklich ihren schmerzenden Körper, die eingeschlafenen Füße dazu Zoes und Milts Hände an ihren Fingern. Sie schlug die Augen auf und hatte das Gefühl, als wäre überhaupt keine Zeit vergangen. Nichts schien sich bewegt zu haben, nichts verändert. Sie versuchte, sich zu drehen; im Augenwinkel sah sie Milts zusammengesunkenen Körper. Angestrengt lauschte sie und hörte ihn leise singen, monotone Töne mit nur wenigen Höhen und Tiefen und unverständliche Wörter. Er schien in Trance zu sein, sein Kopf pendelte leicht hin und her. Dann seufzte er und war still.
Er war lange still. Zoe rührte sich ebenfalls nicht. Laura wagte nicht, ihre Haltung zu verlagern, obwohl sie sicher war, dass inzwischen ihre Beine abgestorben waren. Die Arme taten ihr weh, auch der Rücken, und sie war sehr müde. Sich ausstrecken und schlafen dürfen, das wäre das höchste aller Gefühle.
Sie hielt den Atem an, als einer der Wächter zwischen den Gefangenen hindurchging, Fesseln kontrollierte, manchmal einen Kopf zu sich anhob. Laura betete darum, dass er nicht zu ihnen käme, und hatte Erfolg - der Mann bewegte sich an ihnen vorbei, ohne auf sie zu achten.
Der eine oder andere Gefangene bat darum, sich hinlegen zu dürfen, doch jedem wurde befohlen, still zu sein. Nachdem wieder alles ruhig war, ging plötzlich ein Ruck durch Milt, und er setzte sich gerade hin. Lauras Finger krallten sich in Zoes Hand, und diese fuhr hoch.
»Was ist? Hab ich was verpasst?«
Glückliche Zoe - sie war tatsächlich eingeschlafen!
»Nein«, sagte Milt gedämpft. »Wir können uns jetzt loslassen.«
Das war gar nicht so einfach, denn sie hatten sich halbwegs ineinander verknotet, und die Finger waren steif und verkrampft.
»Und?«, fuhr Zoe fort und gähnte herzhaft. »Hat es geklappt?«
»Ja.«
»Wie … ja? Und was weiter?«
»Nichts weiter. Ich habe mit den Geistern Kontakt aufgenommen, und sie haben versprochen zu helfen.«
Zoe klang ernsthaft verärgert. »Und was genau werden sie tun?«
»Das weiß ich nicht, so etwas teilen sie nicht mit. Und nein, auch den Zeitpunkt haben sie mir nicht verraten.«
»Du verarschst mich, Milt, und das kann ich nicht leiden.«
»Ich weiß nicht …«, sagte Laura zögernd und verunsichert.
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