Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
ihr etwas eingefallen, wie sie das Thema noch besser einkreisen konnte.
»Frage fünf: Was geschah an dem Tag beziehungsweise in der Nacht, als der Fluch über dich hereinbrach?«
Ihr Herz begann wild zu schlagen, als sie sah, wie sein Wangenmuskel zuckte und seinen schwarzen Bart zum Zittern brachte. Jetzt, dachte sie, jetzt kommen wir der Sache näher. Es war jene Frage gewesen, die jedem gleich als Erstes eingefallen wäre, wie auch ihr. Aber die Formulierung war es nun einmal, nicht das plumpe »Wie kam der Fluch über dich?« Diese Frage beinhaltete sehr viel mehr. Nämlich auch das Geschehnis, das nicht unmittelbar mit dem Fluch zusammenhing. So langsam hatte sie den Bogen raus. Na schön, sie hatte inzwischen die Hälfte der Fragen verbraucht. Da blieb nicht mehr viel. Hastig schrieb sie Nummer fünf auf und erkannte, dass sie tatsächlich neun Fragen brauchte, um auf die richtige zu kommen. Mindestens. Sie kreiste ihn zwar langsam ein, aber die richtige Wortwahl war es eben, auf die es ankam. Sie merkte sich ganz genau seine Mimik zu jedem Wort, nur leider gab das bisher nicht allzu viel her.
Und wieder kam sie auf den Pakt zurück. Der Satz an sich war nicht falsch gewesen, er hatte darauf reagiert. Nur nicht auf das Wort. Auch nicht auf »Vertrag«. Es musste ein anderes Wort gewesen sein. Aber welches?
»Also dann«, sagte Fokke und beugte sich mit einem hämischen Gesichtsausdruck vor. »Was war das schlimmste Ereignis in deinem Leben?«
Pauken und Trompeten – hatte sie es doch gewusst! Nicht das, nein, das würde sie nicht zulassen.
Doch sie hatte keine Wahl.
13.
Das Schlimmste
»Das Schlimmste?«, überlegte Laura. »Das hat wahrscheinlich noch gar nicht stattgefunden.«
»Aber es gab Ereignisse, die dich nachhaltig geprägt haben.«
»Sicher. Und es waren viele schlimme dabei, an die ich nie wieder denken will.«
»Erzähle mir von dem einen Ereignis, das dich für lange Zeit bis in deine Albträume verfolgt hat. Für das du dich immer noch schuldig fühlst, obwohl du es nicht verhindern konntest.«
Laura rollte die Lippen übereinander. Wollte er hier eine Parallele zu seinem Leben ziehen? Zu dem, was damals passiert war?
»Da muss ich weit zurückgehen«, murmelte sie. »Ich war acht oder neun Jahre alt ...«
Laura ging damals in die Grundschule, sie konnte den Weg zu Fuß von zu Hause zurücklegen. Am Anfang an der Hand ihrer Mutter, später dann allein. Bald nahm sie zumeist nicht die Straße, sondern eine Abkürzung durch einen kleinen Park mit einem Bachlauf. Der Bach war so tief, dass sogar Forellen darin leben konnten. Oder vielmehr könnten; immer wieder mal wurden welche ausgesetzt, meistens gab es sie dann nicht lang, weil sie illegal gefischt wurden. Auch wenn sie erst eine Handspanne lang waren. Parkwächter dafür gab es nicht; es war wichtiger, die falsch parkenden Autos in der Umgebung aufzuschreiben. Der Park war viel schöner zum Gehen, grün und zwitschernde Vögel und keine Gefahr, über den Haufen gefahren oder angerempelt zu werden. Abgesehen von den Radfahrern ... Aber Laura hatte sich angewöhnt, ganz am Rand zu gehen, da kamen sie sich meist nicht ins Gehege.
Laura war zu der Zeit ein dünnes kleines Mädchen mit langen blonden Zöpfen. Anstatt bunte Hosen oder Jeans wie alle anderen trug sie Kleider oder Röcke und Blusen, weil Mutter Wert darauf legte, dass sie immer gut angezogen war. Laura wollte gern selbst entscheiden, das durfte sie aber nicht, weil sie dafür noch zu klein war. Die Mitschüler gewöhnten sich schließlich daran, und dann war es auch nicht mehr so schlimm.
Alles in allem lief es recht gut. Laura ging gern in die Schule, da hatte sie Abwechslung, das Lernen machte ihr Spaß, und sie hatte Freunde. Damals kamen Handys für Kinder gerade erst in Mode, Computer gab es höchstens mal einen in der Schulbibliothek. Notebook, Internet, das alles fing erst so richtig an. Also konnte nicht allzu viel schiefgehen, abgesehen von Missgeschicken, die jedem mal passieren konnten. Bei der Achtjährigen achtete niemand sonderlich darauf.
Sie war ein ganz normales Kind, das zu dem Zeitpunkt unbedingt »was mit Tieren« machen wollte, wenn es mal groß war. Was die Eltern dennoch nicht davon überzeugen konnte, ihr wenigstens einen Hamster zu kaufen, um erste Erfahrungen zu sammeln. Aber ihre Freunde hatten alle irgendwelche Tiere, die konnte sie dann streicheln.
Der Weg durch den Park diente in der Früh zur Einstimmung auf die Schule und mittags
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