Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
sie sich jetzt noch nicht zu kümmern. Konzentration, Konzentration!
Das war inzwischen nicht mehr so leicht. Ihr Kopf war randvoll, er tat ihr weh, der Nacken war verspannt, und sie fühlte die körperliche Erschöpfung immer mehr. Auch ihr Geist wurde müde. Natürlich legte Fokke es darauf an, er musste ja schließlich nicht essen oder schlafen. Aber er paffte schon wieder seine Pfeife. Gewisse Bedürfnisse blieben also erhalten, und nicht alle hatten etwas mit Folter zu tun.
Sie gähnte, rieb sich den Nacken, stand auf und streckte sich, ging umher, schaute sehnsüchtig nach dem unbenutzten Bett, kratzte sich. Setzte sich wieder. Holte Luft, um die Frage möglichst schaukräftig zu unterlegen.
»Frage acht: Hast du vor dem Fluch jemandem ein Versprechen gegeben?«
Fokkes Reaktion erfolgte eindeutig auf das einzige Stichwort. Es war das »Ver-«-Wort, das sie mit »Vertrag« begonnen hatte. Ein Versprechen war so etwas wie ein Vertrag, deswegen hatte er eine leichte Reaktion gezeigt. Und nun zuckten seine Schultern, und er bewegte sich unruhig. Das Geheimnis in ihm rührte sich und murrte, es wollte heraus. Sie war schon dicht dran, und der untote Kapitän fühlte sich ganz und gar nicht mehr wohl in seiner wachsbleichen Haut. Feine schwarze Fäden stiegen von ihm auf und vergingen an der Luft.
Aber natürlich war das noch nicht alles, deswegen würde er nicht darauf antworten. Das kratzte möglicherweise nur die Oberfläche des Geheimnisses, war aber vielleicht auch der Auslöser gewesen.
Laura notierte die Frage und studierte aufmerksam die anderen davor. Sie zog ein paar Linien, machte Zeichen an den Rand. Schritt für Schritt näherte sie sich der Lösung an. Wie hieß es doch bei Sherlock Holmes? Deduktion, genau. Das machte sie hier. Kam vom Allgemeinen zum Besonderen, zur logischen Schlussfolgerung. Gut, der Begriff »Logik« war im Zusammenhang mit Innistìr ein wenig kühn, aber die Vorgehensweise würde wohl trotzdem funktionieren. Stück für Stück setzte sich ein Bild zusammen und führte zu dem Ergebnis, das man als romantische Seele sowieso von Anfang an vermutet hatte – nur, das war keinesfalls die richtige Frage, deswegen war genau das bisher ausgeklammert gewesen. Es wäre schlichtweg zu einfach gewesen. Und vor allem, eine Vermutung war noch kein Fakt.
»Was machst du da?«, wollte Fokke wissen.
»Ich spiele Detektiv«, antwortete sie abwesend und malte einen Kreis um ein Wort.
»Was ist das?«, fragte er verständnislos.
Laura sah auf. »War das gerade deine Frage an mich?«
Für einen kurzen Moment wirkte er verwirrt, dann nickte er.
»Also schön. Zünde deine Pfeife wieder an, das passt gut dazu. Ich erzähle dir jetzt vom größten Detektiv aller Zeiten, der niemals gelebt hat.«
»Also eine Fabel«, schlussfolgerte Fokke, nachdem Laura geendet hatte.
»Genau wie die deine. Wer weiß also, ob es nicht in irgendeiner Anderswelt auch Sherlock Holmes gibt. Er hätte seine helle Freude an unserem Duell gehabt.«
»London ...«, sinnierte er. »Ich erinnere mich an London ...«
»Tja, damals wurde die Themse noch eifrig befahren, direkt vom Meer hinein in die Stadt.«
»Auch Sherlock Holmes könnte mein Geheimnis nicht lösen.«
»Doch, könnte er.«
»Nur, weil es so konstruiert wird! Aber in der Wirklichkeit ...«
»Ich sage dir, er könnte es«, widersprach Laura hartnäckig. »Wahrscheinlich brauchte er allerhöchstens, wenn überhaupt, nur fünf Fragen. Und warum? Er bringt viel bessere Voraussetzungen mit als ich. Zum einen kennt er deine Sage besser als ich, weil sie damals viel mehr verbreitet war, vor allem in London, durch all die Seefahrer. Zum anderen verfügt er über eine hundertmal bessere Beobachtungsgabe als ich. Und er würde seine Fragen dermaßen subtil stellen, dass wenige Worte zum Ziel führen. Denn er denkt sehr schnell und vor allem gleichzeitig über verschiedene Probleme nach.«
Fokke stand auf und wanderte in der Kabine umher. »Deine Verehrung für diese fiktive Figur ist lächerlich.«
»Nun, die Art seiner Ermittlungen funktioniert, und das muss man anerkennen. Es ist doch so, wir gehen viel zu oberflächlich durch die Welt.« Laura tippte auf das Papier. »Aber nicht hier, nicht jetzt.«
»Willst du damit sagen, dass du wirklich nicht entmutigt bist, obwohl du nur noch zwei Fragen hast?«
»So ist es. Ich weiß bereits die neunte Frage. Wusste ich schon seit einiger Zeit, ein paar Fragen vorher.«
Er blieb stehen und starrte zu ihr. Sie
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