Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
jetzt intuitiv geschehen. Das Inhaltliche, worum es ging, stand für sie fest.
Bald darauf kam Aswig mit dem Tablett herein. Ihm war anzusehen, wie gern er mit Laura gesprochen hätte, aber Fokkes Anwesenheit ließ es nicht zu.
Der untote Kapitän hatte sich auf einen Stuhl ins Halbdunkel zurückgezogen, wo er sicherlich finstere Pläne ausheckte.
Laura lächelte dem blassen Schiffsjungen aufmunternd zu, während er die Sachen vor sie hinstellte. Sie würde nichts sagen und auch kein Zeichen geben, um Fokke nicht noch mehr zu reizen. Der entscheidende Moment stand bevor, und daher war die Lage momentan äußerst heikel. Gewiss spann er an Möglichkeiten, sie zu hintergehen. Oder versuchte, einen Zauber zu weben, der die letzte Frage verhindern würde.
Doch wenn es noch eine Gerechtigkeit in Innistìr gab, konnte Laura das Duell bis zum Ende fechten. Auch das Schiff war von den Regeln nicht ausgenommen, und eine Dehnbarkeit war zwar möglich – aber nur bis zu einer gewissen Grenze.
Sie aß in Ruhe und war überrascht, dass es schmeckte. Offenbar waren neue Nahrungsmittel gebunkert worden. Doch für wen? Sicher nicht für sie und Milt und Finn, um sie noch eine Weile bei Laune zu halten?
Zum Glück hatte Aswig zwei Krüge Wasser gebracht, die sie innerhalb weniger Minuten leerte. Hoffentlich bekämpfte das ihre höllischen Kopfschmerzen, die in ihren Schläfen pochten. Ein eindeutiges Zeichen der Überanstrengung und des Schlafmangels.
Außerdem hatte Aswig eine Waschschüssel und einen Tuch bereitgestellt, und so wusch sie sich Hände und Gesicht, kühlte ihre heiße Stirn und rubbelte ihren schmerzenden Nacken.
Als sie einen Blick auf die Sanduhr warf, stellte sie fest, dass bereits die Hälfte der Frist verstrichen war. Nun aber los.
Sie stand auf. »Ich muss jetzt nach draußen.«
»Kramp steht vor der Tür«, erklang Fokkes grollende Stimme. Sie konnte nur seinen Schattenumriss erkennen.
Sie fasste sich ein Herz und trat vor die Tür, wo der Steuermann tatsächlich schon wartete.
»Was hast du denn für eine Blase?«, schnarrte er. Er hatte es wohl satt, die Aufsichtsperson spielen zu müssen, ohne zuschauen zu dürfen.
»Ich bin nun mal eine Frau«, erwiderte Laura. Ein Blick ringsum zeigte ihr, dass es Nachmittag war und die Verbindungsplanke zum Steg nach drüben zurückgezogen war. Von der Insel befand sich niemand mehr an Bord; die Arbeiten schienen wohl abgeschlossen zu sein. Dann würden sie also bald ablegen und losfliegen – ja, wohin?
Nirgendwohin, dachte Laura grimmig. Weil ich dich gleich fertigmache, du verdammter Unhold.
Sie ging betont langsam, damit die Mannschaft und die Sklaven, die wie immer still vor sich hin arbeiteten, sie sehen konnten. Alle sollten mitbekommen, dass es nun ins Finale ging.
»Mach schon!«, schnaubte Kramp.
»Ich habe noch eine halbe Stunde, und die gedenke ich auszunutzen«, sagte sie kühl. »Es ist also nicht notwendig, dass du draußen wartest. Ich finde den Weg inzwischen allein.«
»Du scheinst mir den Verstand verloren zu haben.« Wütend stampfte der Steuermann davon, während Laura erleichtert in den winzigen Verschlag schlüpfte, der nur von Eingeweihten gefunden werden konnte.
Nun hatte sie genug Ruhe und Muße, um nachzudenken. Es war zwar stickig, und der Geruch entsprach nicht gerade einem guten Parfüm, aber ihr war alles recht. Hauptsache, sie hatte ein paar Minuten nur für sich, fern von diesen finsteren Gesellen.
Also. Worum ging es? Was war das Zentralthema?
Liebe. Er hat bei allen Fragen an mich nie nach Liebe gefragt. Natürlich hatte sie von vornherein angenommen, dass die Liebe der Schlüssel war. Das hätte jeder getan. Meist ging es in solchen Geschichten um eine Romanze, eine Tragödie oder Ähnliches. Doch das reichte nicht als Frage aus. Es gab so viele Möglichkeiten, wodurch der Fluch ausgelöst worden sein könnte – dafür reichten keine zehn Fragen. Und eine reine Annahme war zudem gefährlich; Laura hatte zuerst alles andere ausschließen müssen.
Genau wie Sherlock Holmes: Was übrig blieb, musste die Lösung sein. Das hatte sie Fokke natürlich nicht erzählt.
Wenn jemand das Wort Liebe und alle seine Zusammenhänge derart mied – beispielsweise hatte Fokke nicht wissen wollen, ob sie sich in den Jungen, der Laura entjungfert hatte, verliebt hatte, oder etwa, wie nun genau Milt und sie zueinander standen –, konnte das nur zwei Bedeutungen haben: Erstens, er war völlig unfähig dazu und kannte das
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