Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
auch Kisten, rostige Werkzeuge und dergleichen mehr. Es gab eine Menge abgeschlossene Verschläge, zwischen denen sie sich hindurchtastete, jeden Moment darauf gefasst, erwischt zu werden.
Kramp war ihr nicht gefolgt. Wahrscheinlich wollte er ihr wieder den Weg abschneiden.
Sie unterdrückte gerade noch einen Schrei, als ein flirrender, durchsichtiger Geist auf sie zuschoss. »Schnell, schnell, zurück!«, wisperte Andreas. »Zurück an Deck, hier unten tut er dir Entsetzliches an! Er ist gleich da!«
Seine Gestalt zerstob, und dahinter erkannte Laura am Ende des Gangs einen großen Umriss. Sie warf sich herum und stürmte den Weg zurück, die Stufen wieder hinauf, und diesmal knallte sie die Luke von oben zu.
Panisch sah sie sich um. Wohin jetzt?
Immerhin hielten Mannschaft und Sklaven sich zurück, ihre Warnung wegen der Regeln hatte genügt. Aber Laura sah auch, wie in dem einen oder anderen Augenpaar der Stumpfsinn wich und ein merkwürdiger Glanz hineintrat. Der Wille zum Widerstand!
Laura wusste, dass sie nicht mehr entkommen konnte, und rannte mitten aufs Deck hinaus. »Bald trifft das zweite fliegende Schiff ein!«, rief sie. »Überlegt euch, ob ihr in diesem Kampf sterben wollt ... huffff! «
Der Stoß trieb ihr die Luft aus den Lungen. Laura hatte für einen Augenblick das Gefühl, in einer Quetsche zu sterben, als sie mit voller Wucht auf die Planken prallte, eingeklemmt unter einem gewaltigen Gewicht. Sofort überfiel sie die Angst zu ersticken; sie konnte nicht atmen, versuchte sich gegen den Druck zu stemmen. Sterne tanzten vor ihren Augen, vor Schmerz und vor Atemnot.
Verschwommen erkannte sie das grobporige, brutale Gesicht des Steuermanns über sich.
»Jetzt reiße ich dir die Zunge heraus, du verdammtes Miststück!«, zischte er ihr heiser ins Ohr. Sein heißer Atem stank nach Alkohol und Verwesung, und ihr wurde übel. Seine Hand näherte sich ihrem Mund. Sie presste fest die Lippen aufeinander und bewegte den Kopf hin und her, soweit sie es vermochte.
Mit Daumen und Zeigefinger zwang er ihre Lippen auseinander, riss sie dabei blutig und drückte gegen ihre geschlossenen Zähne.
»Nnng ... nnng ...«, machte Laura, aus ihren Augenwinkeln rannen Tränen. Sie zog die Zunge zurück, als der Ballen des Zeigefingers sich langsam hindurchpresste.
Sie merkte, wie die Ohnmacht nahte, und kämpfte dagegen an, aber der Sauerstoffmangel ließ sich immer noch nicht ausgleichen. Vor ihren Augen wurde es dunkel ...
... und wieder hell. Plötzlich sah sie den Himmel über sich und begriff zeitverzögert, dass Kramp nicht mehr da war.
Laura rollte sich auf die Seite und rang hustend und keuchend nach Luft, hielt sich die Kehle mit der einen Hand und presste die andere auf die gequetschten Rippen.
Fokke war gekommen – das war auch Zeit geworden. Mit einem einzigen Griff hatte er den schweren Steuermann von seinem Opfer weggerissen und quer über das halbe Deck geschleudert.
»Was geht hier vor sich?«, brüllte er.
Laura schaffte es, sich auf alle viere zu stemmen. Zum Glück waren die Rippen nicht gebrochen, auch sonst nichts. Dennoch schmerzte es höllisch. Sie schmeckte Rost in ihrem Mund und wischte das Blut von den Lippen, streifte es auf den Planken ab. Sie musste so schnell wie möglich wieder auf die Beine kommen, durfte sich vor Fokke keine Blöße geben.
Kramp stand bereits wieder. »Sie darf nicht mehr sprechen!«, gab er als Erklärung. »Und es wird Zeit, dass sie stirbt!«
»Noch entscheide ich darüber«, maßregelte ihn der Kapitän aufgebracht. » Wage es nicht noch einmal, gegen die Regeln zu verstoßen!«
»Ich wollte dich schützen!«
»Einen Fluch hättest du heraufbeschworen, du Narr, und ich hätte nichts mehr für dich tun können! Die Regeln sind unauflöslich!«
Der riesenhafte Kapitän drehte sich im Kreis. »Geht an die Arbeit!«, schrie er die Mannschaft an. »Los, Deck schrubben, sauber machen, Schäden beseitigen! Packt euch!«
Laura kam taumelnd auf die Beine. Alles an ihr war inzwischen ramponiert, und sie bot garantiert ein Bild des Jammers. Sie brauchte keinen Spiegel, um das zu wissen. Aber im Kopf, der wieder mit Sauerstoff versorgt war, war sie nun glasklar und zu allem entschlossen. Kramps Angriff hatte ihr den Rest gegeben, und sie fühlte nur noch blindwütigen Hass.
Letztlich gelang es Fokke doch, sie zu verderben. So finster, so böse hatte sie sich noch nie im Leben gefühlt. Alles, was sie jetzt noch wollte, waren Kramps Tod und die
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