Schattenlord 12 – Lied der sieben Winde
Vernichtung seines Herrn.
Die Haare hingen ihr in Strähnen ins Gesicht. Sie ging leicht gekrümmt, humpelte ein wenig. Blut rann in einem feinen Faden übers Kinn, ihre Augen waren feucht, eine Wange schwoll schon wieder an. Ihre Kleidung bestand fast nur noch aus Fetzen.
Den brennenden Blick auf Kramp gerichtet, ging sie auf ihn zu. Nicht, weil sie das wollte, sondern weil er im Weg stand. Mit dem Handrücken wischte sie ab, was gerade aus ihrer Nase lief, und streifte es an der Hose ab, ohne nachzusehen, was es war.
Fokkes Stimme war verklungen, viele von der Mannschaft geflohen. Doch manche hatten sich geschützte Aussichtsplätze gesichert und beobachteten weiter. Laura hoffte, dass diese Szene nachhaltigen Eindruck hinterlassen würde.
Vor Kramp dem Knickrigen blieb Laura stehen. Er überragte sie um mehr als Haupteslänge und wog ungefähr das Doppelte. Sie hätte leicht hinter ihm Deckung suchen können.
»Geh. Mir. Aus. Dem. Weg! «, befahl sie, leise und ziemlich rau und heiser, aber dafür umso nachdrücklicher. Schniefend zog sie die Nase hoch, rieb sich übers Kinn und wischte das aufgefangene Blut an dem Kragen seiner Jacke ab. Sie stand schwankend. Ein kleiner Stupser nur, und sie wäre umgefallen und wahrscheinlich zerbrochen wie eine zarte Mingvase aus hochfeinem Porzellan.
Kramp trat zur Seite. An ihm vorbei, ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, schritt Laura in die Kabine.
Die Waschschüssel stand noch da. Laura tauchte das Gesicht hinein und fühlte dankbar die Kühle des Wassers auf ihrer geschundenen Haut. Sie trocknete sich gründlich ab, rieb Hände und Arme und klopfte sich zuletzt die Kleidung ab. Sie fand ein paar Reste auf dem Teller und schlang sie hungrig in sich hinein. Auch etwas Wasser war im Becher. Sie hatte das Gefühl, schon wieder zwei oder drei Kilos verloren zu haben.
Aber es war ohnehin gleich vorbei, und dann durfte sie sich hoffentlich erholen.
Sie drehte sich um, als sie Fokke hereinkommen hörte.
»Du hast eine Vorstellung da draußen abgeliefert, die mir nicht gefällt«, tönte er wütend.
»Ich wüsste nicht, dass wir Stillschweigen vereinbart haben«, sagte Laura. »Und ich war es nicht, die die Leute von der schwebenden Insel zu Wetten veranlasst hat.«
»Ich wohl kaum!«
»Dann hast du eben irgendwo eine undichte Stelle. Vielleicht wollte Kramp ein kleines Zusatzgeschäft machen.« Sie hob die Hände. »Aber ist das nicht völlig egal? Ich stelle die letzte Frage, und dann steht der Sieger fest.«
»Und der wirst nicht du sein.«
Laura wurde innerlich ganz ruhig. Sie schob die Aufregung über Kramps Angriff weg, dazu ihren Hass, einfach alles. Diesen Moment würde sie genießen, auskosten, ausdehnen. So einen gab es nur einmal. Obwohl es wehtat, verzog sie die Lippen zu einem Lächeln. Dabei riss die feine Haut wieder auf, die sich gerade geschlossen hatte, und sie spürte Feuchtigkeit. Aber nur wenig, nicht schlimm. Sie leckte es mit der Zunge weg.
»Der werde ich sein «, widersprach sie gelassen, mit der leisen Stimme der Überlegenheit. Er konnte sie nicht daran hindern, es auszusprechen. Das war das Beste daran. In diesem Moment beherrschte sie die Situation ganz und gar.
»Dann bin ich gespannt.« Fokke grinste süffisant, er glaubte ihr kein Wort. Er schritt um seinen Tisch und setzte sich dahinter. »Ich bin ganz Ohr. Oder möchtest du noch ein paar Minuten, in denen du die letzten Dinge in deinem Leben regelst? Danach wird dir keine Möglichkeit mehr bleiben.«
»Das Gleiche wollte ich dir vorschlagen.«
»Also, überreize es nicht. Die Sanduhr ist abgelaufen. Stelle die Frage!«
Laura reckte sich so gerade wie möglich und räusperte sich. Dann sagte sie mit ruhiger Stimme: »Wen stellte die Galionsfigur dar, die du abgesägt hast?«
Barend Fokke saß wie vom Donner gerührt.
Laura wusste, dass sie den Volltreffer gelandet hatte. Sie sah es ihm an. Sie spürte es. Sie merkte, wie ein unnatürlicher Wind in der Kabine aufkam und die Geister der Vergangenheit in weißen Schleiern herbeiwehte. Als ob sich alle Schleusen und Luken öffnen würden und entließen, was so lange hinter Schloss und Riegel bewahrt worden war.
Das Geheimnis öffnete sich wie die Blüte einer Lilie, aber es verströmte keinen süßen Duft, sondern brachte Tod und Verderben mit sich.
Dort, wo Fokkes Augen lagen, zeigten sich plötzlich zwei weiße Augenbälle.
Sein Mund öffnete sich, und seine Geschichte floss heraus ...
17.
Barend Fokkes
Weitere Kostenlose Bücher