Schattenlord 4 - Der Fluch des Seelenfängers
verstricken sie sich in Widersprüche. Genau wie du denken sie nicht darüber nach und verdrängen, was sie verrückt machen könnte.«
»Ich denke über eine Menge Dinge nach, Laura«, versetzte Milt ernst. »Ich bin dreißig Jahre alt und dir begegnet. Zugegeben in einer Extremsituation, aber ... ich möchte gern herausfinden, wie sich der Alltag gemeinsam bestreiten lässt.«
»Du gibst nicht auf, was?« Sie lächelte. Er stellte sich schon ein gemeinsames Leben vor, und sie war noch nicht einmal bereit, über eine Affäre nachzudenken.
Erschrocken merkte sie, wie ihre Zunge über die Lippen fuhr, als könne sie einen Rest von seinem Kuss auffangen. Sofort wurde ihr innerlich warm, wenn sie daran dachte.
Er hielt ihre Hand fester an sich gedrückt und neigte leicht den Kopf. Inzwischen bewegten sie sich nicht mehr.
»Milt ...«, begann Laura zögernd.
»Ich weiß schon.« Er ließ sie los. »Tut mir leid, Laura, aber du bist so - so zauberhaft - und dann dieses Ambiente ...«
Sie wollte es ja auch. Aber wie konnte sie angesichts ihrer Lage? Zoe fort, die anderen gefangen? Zuerst mussten Ordnung und Sicherheit herrschen, und ...
»Dein schlechtes Gewissen ist nur eine Ausrede für deine Angst«, unterbrach Milt sie. »Ich stehe auf dem Standpunkt, eine Gelegenheit zu ergreifen, solange sie sich bietet. Ich weiß doch nicht mal, ob ich morgen noch lebe.«
»Entschuldige«, sagte sie beschämt.
»Laura, im schlimmsten Moment meines Lebens, als ich hier gestrandet bin mit der Aussicht auf einen baldigen Tod, bin ich dir begegnet, und ich wusste sofort eines: Du bist das Beste, was mir je passiert ist. Ich habe überhaupt keinen Zweifel, was dich betrifft. Warum ... kannst du nicht ebenso empfinden? Ich weiß doch, dass du mich magst.«
»Ich kann's dir nicht erklären, Milt«, sagte sie traurig. »Ich bin einfach noch nicht so weit. Mir war vorher schon nicht nach Tanzen und Feiern zumute, und ehrlich gesagt ... will ich jetzt nur ins Bett und schlafen. Ich brauche Ruhe und ein bisschen Zeit für mich.«
»Hast du mich gern, Laura?«, hakte er leise nach.
Seltsam, wie gut sie sich trotz des Lärms und Trubels verstanden. Die Gesellschaft wurde immer lauter und ausgelassener, die meisten hatten sich zu traditionellen Tänzen zusammengefunden und übertrumpften sich gegenseitig mit Körperbeherrschung und neuen Tanzfiguren.
Endlich gab sie sich einen Ruck. »Ja, Milt.« Sie zog seinen Kopf zu sich herunter und küsste ihn auf die Lippen, wich jedoch zurück, bevor er den Mund öffnen konnte. »Und jetzt gehe ich.«
»Okay«, gab er nach. Er wirkte verloren, als sie ging.
Laura sah irgendwo Finn ein Mädchen durch die Luft wirbeln, Jack und Andreas klatschten im Takt zu zwei Männern, die eine Art Schwertertanz aufführten. Jeder hatte einen Becher in der Hand und trank. Sie sollten bester Stimmung sein, sie hatten es verdient, und als Trauerkloß in der Ecke herumzusitzen würde den Geiseln oder Zoe nicht im Mindesten helfen. Laura wusste das, aber sie konnte es nicht ändern.
Hauptsächlich war sie müde; das viele Essen wollte erst mal verdaut werden, bevor sie wieder aktiv wurde. Immerhin hatten sie Informationen erhalten, auf denen sie aufbauen konnten. Vielleicht war morgen noch einmal ein Gespräch mit den Herrschern möglich, um mehr zu erfahren. Der Baron und seine Frau wussten sehr viel mehr, als sie herausrücken wollten. Laura hoffte, sie überzeugen zu können.
Kurz darauf streckte sich Laura wohlig in dem Himmelbett aus. Ein langer, tiefer Schlaf würde ihr guttun und sie mit neuen Kräften erwachen lassen.
Laura löschte die Kerze, und Dunkelheit umgab sie, doch sie hatte keine Angst. Sie kuschelte sich ins Kissen, schloss die Augen und war eingeschlafen.
Am Morgen erwachte sie durch einen kühlen Luftzug. Blinzelnd öffnete sie die Augen und sah ... den Himmel über sich. Nicht den des Baldachins, sondern den richtigen Himmel, noch grau und verschlafen. Der Stoff des Baldachins bestand nur noch aus Fetzen und flatterte in der Morgenbrise.
Laura setzte sich im Bett auf, rieb sich die Augen, konnte und wollte nicht glauben, was sie da sah.
Das Mauerwerk um sie war nicht mehr als eine Ruine, zusammengefallen und bröckelnd. Die Einrichtung, sofern sie noch bestand, war von einer dicken Staubschicht bedeckt, und überall in den Ecken waren viele Spinnennetze gespannt. Die Seidentapete moderte, und echte Blüten wuchsen durch sie hindurch.
Grau und verlassen, das war dieses Schloss, das
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