Schattenlord 6 - Der gläserne Turm
stumpf.
Gläserne Stühle standen in mehreren Reihen hinter ihr. Sie waren ungepolstert und schlicht. Wer dort saß, sollte sich nicht wohlfühlen.
»Warum ist sie so fett?«, flüsterte Nidi. »Ich dachte, hier gibt es nichts zu essen.«
Die gleiche Frage hatte sich Laura auch schon gestellt; trotzdem legte sie den Finger auf ihre Lippen, um den Schrazel zum Schweigen zu bringen. Die Herrscherin erschien ihr unberechenbar, sie wollte sie nicht noch mehr reizen.
Ke-Amarihye schickte die mittlerweile leise schluchzende Dienerin mit einer Handbewegung weg, dann wandte sie sich ihren Besuchern zu. Eine andere Dienerin schob ihr rasch ein Kissen in den Rücken, damit sie über ihren gewaltigen Bauch hinwegsehen konnte.
»Wenn Wir noch einen schlechten Witz heute ...«, begann sie, unterbrach sich dann aber. »Was seid ihr denn?«, schrie sie im nächsten Moment. Laura zuckte erschrocken zusammen, doch die Dissonanzen in der Melodie verschwanden, und auf den Gesichtern der Dienerinnen sah sie auf einmal Erleichterung.
Nidi sprang von Lauras Schulter. »Ich, Euer Majestät, bin ein Schrazel, Bote einer fremden Welt, Erzähler von tausendundeiner Geschichte. Das hinter mir ist ein Mensch, doch das muss Euch nicht interessieren. Menschen gibt es viele, aber ein Schrazel ist einzigartig.« Er verneigte sich.
Ke-Amarihye klatschte in die Hände, applaudierte ihm. Fettwülste klatschten wie Wellen unter ihrem farbenprächtigen Gewand gegeneinander.
»Ist sie nicht wunderschön?«, flüsterte Breynu.
Laura sah ihn von der Seite an und schwieg.
»Komm heran, Schrazel«, sagte Ke-Amarihye aufgeregt. »Wir möchten dein Fell berühren.«
Nidi nahm Anlauf und landete mit einem Sprung auf dem Podest. Zwei Dienerinnen kreischten und wichen zurück, als hielten sie ihn für ein wildes Tier, aber Ke-Amarihye lachte und winkte ihn zu sich.
Wenn sie ihn umarmt, ist er erledigt, dachte Laura.
Doch das tat sie nicht. Stattdessen strich sie vorsichtig über sein goldbraunes Fell. »Du bist so weich.«
Sie drehte den Kopf, so weit, wie es ihr Doppelkinn erlaubte. »Fasst ihn an. Ihr werdet nicht glauben, wie weich er ist.«
Die Dienerinnen zögerten.
»Fasst ihn an.« Ke-Amarihyes Tonfall wurde schärfer.
Rasch kamen die Dienerinnen ihrem Befehl nach. Nidi ließ sich alles gefallen, schien die Aufmerksamkeit und die vielen Hände sogar zu genießen.
Das kann eine Weile dauern, dachte Laura, doch nach nur wenigen Minuten sah Ke-Amarihye auf. Sie beachtete Laura nicht, sondern wandte sich an Breynu. »Meroyan hat wieder einmal gutes Urteilsvermögen bewiesen. Wir kennen weder dich noch deinen Rang, aber wenn Wir Uns dich so betrachten, glauben Wir, dass du auf der ersten Ebene lebst.«
»Das ist richtig, Euer Majestät.«
»Nicht mehr, mein Freund. Pack deine Sachen. Von nun an sollst du auf der vierten Ebene residieren.«
»Majestät, ich ...« Breynu brach ab, suchte nach Worten, fand keine und hob die Schultern. »Ich danke Euch.«
»Nein, wir danken euch für dieses Geschenk.«
Nidi und Laura sprangen gleichzeitig auf.
»Geschenk?«
29
Absturz
und Aufstieg
E s war einfacher, als er sich vorgestellt hatte. Nach ein paar Monaten, die er mit Kellnern und Bauarbeiten zubrachte, kaufte er sich eine gefälschte Geburtsurkunde; kurze Zeit später hielt er seinen amerikanischen Pass in der Hand. In einer Flugschule lernte er fliegen, in einer anderen wurde er, als man sein Können bemerkte, zum Ausbilder. Medikamente kaufte er von Drogenhändlern, was nicht immer ungefährlich und stets teuer war. Er war zu allen freundlich, verhielt sich unauffällig und pflegte keine Freundschaften. Doch seine Kollegen mochten ihn und schlugen ihn für Jobs vor, für die sie selbst nicht qualifiziert waren. Nach einer Weile flog er Frachtmaschinen quer über den Kontinent, dann folgten die ersten Passagierflugzeuge. Die notwendigen Papiere stahl er aus Personalabteilungen, kopierte sie und setzte seinen eigenen Namen ein.
Niemand überprüfte je, was er behauptete zu sein, und irgendwann vergaß er beinahe, wer er einst gewesen war. Wenn die Medikamente nicht gewesen wären und die ständige Angst, beim Kauf erwischt zu werden, wäre er wahrscheinlich ganz zu Andreas Sutter geworden. Sein einziger Fehler war die Heirat gewesen. Kollegen und sogar Freunden konnte man jahrelang etwas Vorspielen, einer Ehefrau nicht.
Man kann eine Ente zwar weiß anmalen, flüsterte der Dämon, aber dadurch wird sie nicht zum Schwan.
Er presste die
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