Schattenlord 7 - Das blaue Mal
Oberkante des Vulkans in den Fels gehauen. Nur der geringste Teil der weitläufigen Anlage war von hier unten sichtbar. Bunte, verflieste Außenflächen, die riesige Fensterflächen umrahmten, fingen Wärme ein und projizierten gelebte Offenheit. Dort oben, in der Bibliothek, dem Ort der Weisheit, waren nicht nur die Gedanken frei. Jedermann, der sich an Forschungen und den Wissenschaften erfreute, der an themenübergreifenden Betrachtungen Gefallen fand, würde im Palast der Ideen seine Zelte aufschlagen. Schon jetzt kamen Wesen aus nah und fern, um zu staunen und dieses Wunderwerk der Architektur zu bewundern. Es klebte wie ein Schwalbennest in den unruhigen Falten des Kraterrandes und krängte teilweise stark über, weit weg von allen anderen Behausungen und Palästen, die hier unten entstanden.
Noch war der Zugang zur Bibliothek erschwert. Man wurde von Laistrygonen in Bastkörben hochgezogen, die ihre Arbeit stets mit einem Lächeln und viel Freude verrichteten. Die Riesengeschöpfe, tumb und einfältig, hatten in Dar Anuin ihren Platz gefunden. Niemand machte sich über sie lustig, man achtete sie wegen ihrer Ehrlichkeit und Gutmütigkeit.
»Wie geht es Arachie Larma?«, fragte Abelae.
»Schlecht. Oder gut. Je nachdem, wie man es sehen möchte. Sie freut sich darauf, von ihrem Schicksal als Schwarzseherin erlöst zu werden.«
»Ich fürchte mich davor, dass sie in ihren letzten Tagen den Schwur brechen und uns allen unser Schicksal Vorhersagen könnte.«
»Sie nimmt ihr Schicksal ohne Murren hin. Sie mag Anwandlungen haben, die an Wahnsinn erinnern. Aber sie schadet einzig sich selbst und keinem anderen.«
Shire warf einen Bück auf das Weiße Haus. Sie glaubte, hinter einem der Fenster die gebückte Gestalt Arachie Larmas wahrzunehmen. Wie sie ihren ächzenden und schmerzenden Körper weiterschleppte, beladen mit selbst gestrickten Tüchern, die sich bereits so hoch türmten, dass es eines gewagten Balanceaktes bedurfte, um sie auf dem Kopf zu halten. Doch sie mochte sich irren. Längst hatten Irr- und Wirrgeister im Weißen Haus Einzug gehalten. Sie waren mitunter lästige, aber harmlose Gesellen, die in ihrer unendlichen Neugier Wege im Fels des Vulkans erkundeten. Bald würden sie nach der Spitzhacke greifen und bestehende Hohlräume erweitern. Um einem untrüglichen Gespür zu folgen. Um weiteren Wege zu folgen, hin zu anderen Palästen, womöglich sogar hoch zur Bibliothek.
»Die Schwemme an Zuwanderern wird zu groß«, klagte Abelae. »Wir müssen uns allmählich überlegen, wie wir die Leute unterbekommen.«
»Es gibt ausreichend Platz. Wir müssen in die Höhe bauen.«
»Du meinst: Häuser oberhalb der Paläste?«
»Ja.«
»Damit werden einige der Hochadligen nicht einverstanden sein.«
»Wenn dem so wäre, hätten sie in Dar Anuin nichts zu suchen. Ich hoffe, dass sie Prunksucht und Stolz hinter sich gelassen haben.«
Abelae rieb sich übers frisch rasierte Kinn. »Ich weiß nicht so recht ... Die d’Haags geben sich zwar engagiert und freundlich - aber ich traue ihnen nicht über den Weg.« Er hatte auf Shires Drängen hin seinen Bart abgeschnitten und zwei Matratzen damit gefüllt, auf denen sich ausgezeichnet schlafen ließ. Ein verträumtes, liebenswertes Gesicht war unter der Haarpracht zum Vorschein gekommen. Womöglich hatte der Soldat so lange auf eine Rasur verzichtet, weil die Freundlichkeit in seinem Antlitz ganz und gar nicht zu seiner Rolle als griesgrämiger Antreiber passte.
»Du traust niemandem über den Weg, schöner Mann.« Shire musste sich weit nach oben strecken, um ihrem Liebhaber mit einer Hand durch das strubbelige Haupthaar fahren zu können.
»Ich habe allen Grund dazu. Ich weiß nur zu gut, wie unsere Leute ticken.«
»Ich frage mich, warum du etwas mit mir angefangen hast und nicht mit der Schwarzseherin. Sie passt wesentlich besser zu dir.«
»Sieh sie dir doch an, die alte Schreckschraube; dann hast du deine Antwort.«
»Es geht dir bloß ums Aussehen?« Shire kniff die Augen zusammen und bemühte sich um einen gestrengen Gesichtsausdruck. »Die inneren Werte bedeuten dir nichts?«
»Natürlich nicht, aber ... ich meine ... Weißt du, wenn ...«
Shire ließ ihn stottern, bedachte ihn weiterhin mit bösen Blicken und kicherte vergnügt in sich hinein. Ach - es war immer wieder ein Riesenspaß, den so einfach gestrickten Mann in Verlegenheit zu bringen. Wusste Abelae denn wirklich nicht, dass es auf derlei Fragen keine allgemeingültigen Antworten gab?
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