Schattenlord 7 - Das blaue Mal
bringen lassen! Mit dem Gewicht dagegenhalten, den Schwung abbremsen. Es ist, als würdest du an einer Felswand im Seil hängen. Du hast alles unter Kontrolle. Du schaffst das!
Tatsächlich gelang es Zoe, das Pendelmoment rasch wieder abzubremsen und das nachfedernde Seil zu beruhigen. Ihr Gleichgewichtssinn war ausgezeichnet, ihre Körperbeherrschung ebenso. Gedankt sei allen Trainern, die mich gequält und geschunden haben, um mich auf den Catwalk vorzubereiten.
Lirlas plötzliches Schweigen war ihr Genugtuung und Antrieb zugleich. Zoe griff mit der Rechten nach dem Seil, so weit wie möglich voraus, und zog sich vorwärts. Zentimeter für Zentimeter. Sie musste nicht nur den ruppigen Widerstand des mehrfach gedrehten Stahltaus überwinden und ihr Gewicht samt Schlitten bewegen, sondern auch gegen Rost und Vogelkot ankämpfen. Doch sie würde es schaffen.
Sie war voll Wut - und sie empfand eine Zuversicht wie selten zuvor in ihrem Leben. Der Abgrund unter ihren Beinen bedeutete nichts. Er jagte Zoe keine Angst ein. Nichts, was Lirla ihr hier antun wollte, würde sie von ihrem Weg abbringen. Zumal sie sich sicher war, dass sich die Syndicatin »bloß« einen bitterbösen Scherz erlaubte. Die Frau konnte es nicht riskieren, dass sie, die wertvolle Trägerin des Blauen Mals, starb. Nicht nach all den harten Trainingsstunden, die in sie investiert worden waren.
Zoe blickte voraus. Sie hatte mittlerweile mehr als die Hälfte des Weges zurückgelegt. Der Fels der Kartause rückte immer näher. Die Verankerung des Seils befand sich neben einem Balkon, der dem ähnelte, den sie eben verlassen hatte. Auf der Rückseite des Palastes ließen sich weitere Trossen erahnen, die zu anderen Kartausen reichten und wie Fäden eines Spinnennetzes wirkten. In weiter Ferne, beinahe am anderen Ende des Kraters von Dar Anuin, erahnte Zoe einen Schlitten, der sich träge auf eines der Gebäude zubewegte. Offenbar nutzten auch die Bewohner der Paläste diese seltsame Form der Fortbewegung.
Ein Priester trat auf den Balkon, auf den sie zusteuerte. Seine Arme waren unter einer einfachen und weit geschnittenen Kutte verborgen. Der Kopf war kahl, das Gesicht so faltig, dass der Mann einer ausgedörrten Pflaume ähnelte.
Er sah sie an, stutzte, runzelte die Stirn. Um dann etwas zu sagen, was ungehört blieb.
Falsch. Denn seine Stimme wurde hinter Zoe laut; dort, wo Lirla stand! Der Schall fegte lautlos über sie hinweg, um die Syndicatin mit voller Wucht zu treffen, sie von den Beinen zu fegen, sie gegen den Fels des Palastes zu schleudern - und alle Dienerinnen mit ihr.
Zoe beobachtete das Spektakel teils mit Befriedigung, teils voll Angst um das Schicksal der Frauen in Lirlas Begleitung.
Sie ließ die Blicke hin und her pendeln. Zum Priester, der in aller Gemütsruhe vor sich hin murmelte, und dann zur Syndicatin, die die Hände gegen die Ohren presste und zugleich versuchte, nicht vom Balkon zu stürzen, immer wieder von vermeintlichen Schallwellen durchgeschüttelt.
Endlich hatte der Priester ein Einsehen. Er schwieg, sein Kopf fiel nach vorn. Er taumelte ein wenig, als hätte ihn dieser Zauber eines Großteils seiner Kräfte beraubt. »Du bewegst dich nicht von der Stelle, Gesandte!«, rief er Zoe in normaler Lautstärke zu.
Sie gehorchte und nutzte die Gelegenheit, Arme wie Beine ein wenig zu entspannen. Bis jetzt hatte sie das Gefühl der Verkrampfung und die zitternden Knie ignoriert. Doch nun, da sich Erleichterung breitmachte, spürte sie die Schmerzen umso deutlicher.
Zoe drehte sich zu Lirla um. Die groß gewachsene Blondine fand eben zurück auf die Beine. Zwei Dienerinnen blieben bewusstlos - oder tot? - liegen. Die Syndicatin kümmerte sich nicht um sie. Sie ordnete ihre Kleidung, fuhr mit gespreizten Handflächen ihren Körper entlang, vom Hals bis zum Becken, ohne ihn zu berühren. Es wirkte wie ein oft geübter Bewegungsablauf, der ihr helfen sollte, spirituelle Energien freizusetzen.
Und tatsächlich: Lirla erstarrte, die Hände nun flach an die Hüften gepresst, holte tief Luft und blies in ihre Richtung. Es dauerte einige Sekunden, bis Zoe die Wirkung spürte. Sie war sanft, aber unwiderstehlich. Der Schlitten nahm Fahrt auf und glitt auf den wartenden Priester zu, ohne auch nur zu ruckeln. Die Trittscheibe, eben noch brüchig und an den Rändern nach unten gebogen, bot nun vertrauenswürdige Sicherheit.
Der Balkon der Kartause war ganz nah. Der Priester zog sich einen Schritt zurück. Etwas war in seinen
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