Schattenmacht
stieg deutlich langsamer aus. Er konnte seinen Hals und seinen rechten Arm kaum bewegen, und jetzt hinkte er auch. Er wusste nicht, wie er sich fühlen sollte. Er hatte Daniel nach Hause gebracht. Natürlich freute er sich für die beiden – aber wenn er sie ansah, empfand er auch eine tiefe Trauer darüber, dass er selbst keine Mutter hatte. Niemand hatte ihn je so in den Arm genommen, und das würde auch nie jemand tun. Er schämte sich für diesen Gedanken, doch er wusste, dass er in diesem Moment überflüssig war. Alicia und Daniel hatten einander. Sie konnten nichts mehr für ihn tun. Und er nichts mehr für sie.
Alicia entdeckte ihn erst jetzt.
»Jamie«, sagte sie. »Du hast ihn zurückgebracht.«
Jamie nickte.
»Wie kann ich dir nur danken? Ich bin so überglücklich, und…« Dann fiel es ihr auf. »Was ist mit Scott?«
»Scott war nicht da.«
Sie musste die Trauer in Jamies Stimme bemerkt haben und kam mit Daniel im Arm auf ihn zu. Einen Augenblick lang sah sie ihn nur an, dann versuchte sie, ihn in ihre Umarmung einzubeziehen. Er wich zurück. »Du bist verletzt«, stellte sie fest.
»Es wird schon wieder.« Jamie sah an ihr vorbei. »Ist es in Ordnung, wenn ich reingehe? Ich muss mich hinlegen.«
»Natürlich. Du musst mir erzähl…« Sie unterbrach sich. »Es tut mir so leid… das mit Scott.«
Aber Jamie war schon an ihr vorbeigangen. Irgendwie schleppte er sich die paar Stufen hoch und betrat das Haus. Es war kühl und sauber, mit einer kleinen Küche, einer Couch und einem Tisch. Er sank auf die Couch. Alicia und Daniel waren noch draußen. Sie hatten so vieles nachzuholen.
EIN SOHN DER STADT
Am nächsten Tag taten sie gar nichts. Jamie brauchte Ruhe, und Alicia und Daniel waren froh, etwas Zeit füreinander zu haben. Sie fühlten sich sicher in der Wohnanlage. Hier kamen und gingen die Leute, und niemand stellte zu viele Fragen. Jamie war nicht gesehen worden. Die beiden konnten eine Familie sein, die einen neuen Anfang machen wollte oder die auf der Flucht vor dem Gesetz war… solche Feinheiten waren den Nachbarn egal.
Alicia machte sich Sorgen um Jamie. Sie hatte ihm etwas zu essen gebracht und seinen Verband gewechselt, und sie hatten auch ein bisschen miteinander geredet, aber die meiste Zeit wollte er allein sein. Er war nur eine Woche weg gewesen, aber vollkommen verändert zurückgekommen. Natürlich, er war angeschossen worden und fast gestorben. Und sie spürte, wie enttäuscht er war, dass er Scott nicht gefunden hatte. Aber da war noch etwas. Er wirkte älter. Es schien, als sähe er die Welt plötzlich mit anderen Augen.
Der nächste Tag war ein Samstag, und Jamie wachte früh auf. Das Mobilheim hatte nur ein Schlafzimmer, das sich Alicia mit Daniel teilte. Jamie schlief auf der Couch im Wohnzimmer. Ihnen allen war klar, dass sie nicht viel länger bleiben konnten. Sie verschwendeten ihre Zeit in Reno. Es gab noch viel zu tun.
Als Alicia ins Wohnzimmer kam, saß Jamie auf der Couch. Alicia stellte erfreut fest, dass er wieder etwas Farbe bekommen hatte und sich auch besser bewegen konnte.
»Kaffee?«, fragte sie.
»Ja, bitte.« Er sah sich um. »Wo ist Danny?«
»Er schläft noch.«
Alicia ging zur eingebauten Küchenzeile und stellte den Kessel auf den Herd. »Wie fühlst du dich?«, erkundigte sie sich.
»Ich bin müde. Aber das wird schon wieder. Ich muss anfangen, nach Scott zu suchen.« Jamie zögerte, aber er musste es wissen. »Wann gehen Danny und du zurück nach Washington?«, fragte er. »Du musst doch wieder arbeiten. Es gibt bestimmt eine Menge Dinge, die du zu tun hast.«
Alicia brachte den Kaffee. »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen«, entgegnete sie. »Ich werde bei dir bleiben, bis wir Scott gefunden haben. Das habe ich dir von Anfang an gesagt. Wir stehen das gemeinsam durch… das sieht Danny genauso. Wir lassen dich nicht im Stich.«
Jamie nickte dankbar. Alicia setzte sich zu ihm. »In den letzten paar Tagen ist eine Menge passiert«, berichtete sie. »Angefangen damit, dass die Bundespolizei Silent Creek übernommen hat, während ihr euch in den Bergen versteckt hattet.«
»Was?«
»Das haben wir John Trelawny zu verdanken. Er hat sich furchtbare Sorgen um dich gemacht und die Behörden verständigt.«
»Ich dachte, das könnte er nicht.«
»Es hat sich etwas geändert. Er will unbedingt mit dir reden. Ich habe ihn gestern angerufen, aber da war er gerade unterwegs, und außerdem warst du ohnehin nicht ansprechbar.«
»Was ist in
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