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Schattenmacht

Schattenmacht

Titel: Schattenmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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Blätter am Schaft.
    Alle Leichen waren verstümmelt worden. Einige waren kaum noch als menschliche Wesen zu erkennen. Als Jamie der Geruch frisch vergossenen Blutes in die Nase stieg, musste er sich abwenden und sich übergeben. Er stolperte vom Schlachtfeld weg, verzweifelt auf der Suche nach einem Versteck, in dem er verarbeiten konnte, was er um sich herum sah.
    Er war auf einem Hügel aufgewacht und stand genau vor einer Ruine. Sie ragte über ihm auf wie ein riesiger Daumen aus rotem Stein. Die Holztür hing schief, und drinnen führte eine Wendeltreppe nach oben. Die Festung – denn offenbar war es eine – musste erst kürzlich in Brand gesteckt worden sein. Teile davon glühten noch, und es war eindeutig, dass all die Männer, die draußen lagen, versucht hatten, sie zu verteidigen.
    Orientierungslos und immer noch von Übelkeit geplagt, stolperte Jamie über Schutthaufen, bis er den Eingang erreichte. Er legte seine Hand an den Türrahmen, zog sie aber schnell zurück, denn das Holz war glühend heiß. Seine Handfläche reibend, ging er um die Festung herum, nur fort von all den Leichen. Er fand ein Fleckchen Gras, setzte sich hin und versuchte, sich zu beruhigen. Sein Herz schlug doppelt so schnell, wie es sollte. Er hatte einen ekelhaften Geschmack im Mund, und in seinem Kopf drehte sich alles. Er hätte sich gern noch einmal übergeben, aber in seinem Magen war nichts mehr.
    Erst jetzt fiel ihm auf, dass er nicht mehr seine eigenen Sachen trug. Jemand hatte ihm ein grob gewebtes graues Hemd ohne Kragen und sackartige Hosen angezogen. Über dem Hemd trug er einen Ledergürtel. Seine Füße waren nackt. Er sah all den toten Männern ziemlich ähnlich.
    Abgesehen davon, dass er noch lebte.
    Oder vielleicht doch nicht? Ihm kam der Gedanke, dass er die Flucht aus Silent Creek möglicherweise nicht überlebt hatte und dass dies das Ergebnis war. Jamie hatte ein bisschen in der Bibel gelesen und war auch ein paarmal in der Kirche gewesen. Marcie hatte ihn und Scott dazu gezwungen. Er wusste Bescheid über Himmel und Hölle, auch wenn er bisher an keines von beidem geglaubt hatte. Jetzt fragte er sich, ob es sie vielleicht doch gab. Vielleicht war dies die Hölle. Es gab hier zwar kein Höllenfeuer und keine Teufel mit Hörnern, aber was er bisher gesehen hatte, war eindeutig höllisch. Vielleicht war dies der Ort, an den die bösen Menschen nach dem Tag des Jüngsten Gerichts geschickt wurden.
    Sein Verstand sagte ihm, dass das nicht stimmte.
    Er tastete vorsichtig seinen Rücken ab und versuchte die Stelle zu finden, wo die Kugel ihn getroffen hatte. Aber da war keine Wunde, und er hatte auch keine Schmerzen. Es war, als wäre er nie angeschossen worden.
    »Ich lebe!«, flüsterte er sich selbst zu, als würden die Worte beweisen, dass es tatsächlich so war. Er hielt sich die Hände vors Gesicht und bewegte die Finger. Sie gehorchten ihm. Sein Magen fühlte sich hohl an, und sein Hals brannte, aber davon abgesehen fehlte ihm nichts.
    Wenn dies also kein Traum und er nicht tot war, litt er dann vielleicht an einer Art Halluzination? So etwas hatte er schon im Fernsehen gesehen, in Science-Fiction-Filmen. Eine Frau schlägt sich bei einem Autounfall den Kopf an und wacht an einem total verrückten Ort auf. Sie glaubt, dass sie wirklich da ist, aber eigentlich liegt sie im Krankenhaus im Koma. Wahrscheinlich ging es ihm genauso. Jamie ließ die Hände sinken und sah sich um. Die Ruine, die noch Teile eines Turms erkennen ließ, sah nicht nach einer Einbildung aus, aber es gab einen Weg, sich zu vergewissern. Er biss die Zähne zusammen, zählte bis drei und schlug mit der Faust gegen die Steinmauer. Er schrie auf. Das hatte wehgetan! Seine Knöchel bluteten. Das musste wohl ein Beweis sein. Er fluchte halblaut und leckte an der Wunde.
    War es möglich, dass er bei seiner Flucht aus dem Gefängnis niedergeschlagen worden war? War es möglich, dass Colton Banes oder Max Koring ihn erneut gefangen genommen und zur Strafe hierhergebracht hatten? Nein. Das war unmöglich, weil diese Gegend zu anders war. Die Schusswunde war verschwunden. Und was war mit all den Leichen in ihren merkwürdigen Klamotten? Hier fand irgendein Krieg statt, und er war zufällig auf der Seite der Verlierer aufgewacht.
    Es gab keine einfache Erklärung. Jamie wurde klar, dass er die Situation so hinnehmen musste, wie sie war, und nur versuchen konnte, das Beste daraus zu machen. Schließlich war sein ganzes Leben vollkommen verrückt

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