Schattenmacht
Krankenhaus kann ihm nicht mehr helfen. Außerdem gibt es hier keines. Das nächste ist dreißig Meilen entfernt. Selbst wenn wir versuchen würden, ihn dort hinzubringen, wäre er tot, bevor wir ankommen.«
»Was sollen wir dann tun?«
»Du musst essen und trinken.«
»Ich will nichts.«
Joes Augen verengten sich. »Dieser Junge hat sein Leben riskiert, um dich aus Silent Creek zu befreien. Es hilft ihm kein bisschen, wenn du deinen Körper austrocknen lässt. Er wollte dich zu deiner Mutter zurückbringen, und ich werde dafür sorgen, dass das auch geschieht. Aber bis es so weit ist, musst du mir vertrauen.«
»Können Sie ihm helfen?«
»Ich habe ihm schon geholfen. Ich habe nach dem Schamanen gerufen. Unser Schamane ist auf dem Weg hierher.«
Daniel nickte. Eine Flasche Wasser und ein Korb mit Obst, Brot und irgendwelchem Trockenfleisch standen für ihn bereit. Er zwang sich zum Essen. Joe hatte recht. Er konnte es zwar noch nicht richtig glauben, aber der Albtraum Silent Creek lag tatsächlich hinter ihm – und das hatte er diesem Jungen zu verdanken, dem er nie zuvor begegnet war, der jedoch aus irgendeinem Grund seine Mutter kannte. Er sah zu Jamie hinüber und erinnerte sich noch gut an den Moment, in dem er getroffen worden war. Das war so unfair – eine Minute später wären sie weg gewesen.
Der Morgen verging. Die Sonne stieg höher, und es wurde heiß, aber Jamie lag im Schatten eines großen Felsens. Daniel fürchtete, dass sie jemand finden würde – sicher suchte die Polizei inzwischen nach ihnen –, aber Joe schien sich keine Sorgen zu machen. Vielleicht, weil Indianer einfach Übung darin hatten, sich in den Bergen zu verstecken.
Zur Mittagszeit bewegte sich etwas, und ein Reiter tauchte auf. Anfangs war er schwer zu erkennen. Er hatte die Sonne im Rücken, was ihn irgendwie unscharf wirken ließ. Aber als Joe mit einem Ausdruck der Erleichterung aufsprang, wusste Daniel, wer es war.
Es war der Schamane. Der Medizinmann.
Das Pferd und sein Reiter schienen eine Ewigkeit zu brauchen, denn beide mussten gegen den steilen Anstieg und die Hitze kämpfen. Daniel sah, wie der Schamane sein Pferd antrieb, sehr energisch sah es allerdings nicht aus, und es hatte auch keinerlei Wirkung. Endlich kam der Reiter näher, und Daniel konnte sich den Mann ansehen, in den Joe solches Vertrauen setzte. Er war nicht beeindruckt.
Der Schamane war einer der ältesten Männer, die er je gesehen hatte. Sein Gesicht sah aus wie das einer Leiche. Die Haut war vertrocknet, spannte sich aber trotzdem straff über den Schädel. Die wenigen Zähne, die noch vorhanden waren, sahen aus, als könnten sie jeden Moment herausfallen, und seine Arme waren dünn und ausgemergelt. In seiner Kehle war eine so tiefe Höhle, dass Daniels ganze Faust locker hineingepasst hätte. Sein Haar war silbern, und er hatte es mit einem Lederband zusammengebunden. Nur die Augen des Schamanen wirkten lebendig. Sie waren grau, aber aus ihnen strahlte eine innere Kraft.
Sehr langsam stieg er von seinem Pferd. Joe stand einfach nur da, hatte die Hände vor dem Bauch verschränkt und starrte auf den Boden.
»Verdammter Gaul!« Der Schamane wandte sich ab und spuckte auf den Boden. »Ich habe zwar nur ein paar Stunden auf ihm gesessen, aber es hat sich angefühlt wie auf einem Kaktus.« Er sah Joe an. »Steh da nicht so rum, Joe Feather. Mach mir eine Tasse Tee! Und ein Stück Pastete würde ich auch nicht ablehnen.«
Erst jetzt, als er die Stimme hörte, wurde Daniel klar, dass der Schamane kein Mann war, sondern eine Frau. Ihr Körper war so verfallen, dass der Unterschied von außen nicht mehr zu sehen war. Plötzlich spürte er ihre Augen auf sich.
»Du bist Danny?«
»Ja, Ma’am.« Danny wusste nicht, wie man eine Schamanin anredete.
»Wie lange haben die dich in ihrem Knast schmoren lassen?«
»Dreißig Wochen und drei Tage.«
»Und ich wette, du hast jeden einzelnen Tag gezählt.« Sie schüttelte den Kopf. »Es gibt schlechte Menschen auf dieser Welt. Manche Leute haben kein Recht zu leben, und das ist die Wahrheit. Aber jetzt lasst uns einen Blick auf diesen Jungen werfen.«
Ihr Auftreten veränderte sich, als sie auf den bewegungslos daliegenden Jamie zuging. Sie kniete sich neben ihn und legte ihm ihre knorrige Hand auf die Stirn. Joe stellte gerade den Kessel aufs Feuer, doch sie rief ihm zu: »Vergiss das, Joe. Komm und hilf mir, ihn umzudrehen.«
Joe kam angerannt, und die beiden drehten Jamie auf die Seite. Der
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