Schattenmacht
Speer nach ihm geworfen. Er bohrte sich so dicht neben ihm in den Boden, dass er ihn durch sein Hemd spüren konnte. Der Skorpion-Mann krabbelte hinter ihm her, doch zur gleichen Zeit sprang Jamie auf und richtete den Säbel auf ihn. Eine Sekunde lang wurde er von einem seltsamen Gefühl überwältigt, das ihn beinahe lähmte. Er stand etwas gegenüber, das nicht menschlich war. Er hatte einen Säbel. Er kämpfte um sein Leben.
Und er hatte keine Angst.
Das war das Verrückteste von allem. Plötzlich wusste er genau, was er zu tun hatte, und obwohl er in seinem ganzen Leben noch keinen Säbel in der Hand gehabt hatte, fühlte er sich an wie ein Teil von ihm. Das war in dem Augenblick passiert, als er ihn in die Hand genommen hatte. Ohne nachzudenken, hatte er das Gewicht der Waffe ebenso registriert wie die Länge der Klinge. Es war fast, als wäre der Säbel eine ganz normale Verlängerung seines Arms.
Der Skorpion-Mann griff an. Sein Schwanz fuhr herab, aber Jamie machte einen Ausfallschritt und schlug zu. Er grinste, als die scharfe Schneide Schuppen und Fleisch durchdrang und den Giftstachel abtrennte. Die Kreatur kreischte auf. Gift spritzte durch die Luft. Jamie duckte sich und stürmte vor. Diesmal bohrte sich der Säbel in den Körper des Monsters, und sofort quoll Blut aus der Wunde. Jamie hatte es geschafft. Er lebte noch. Und er hatte gesiegt.
Der Skorpion-Mann bäumte sich auf und riss Jamie dabei den Säbel aus der Hand. Jamie sah, dass das Monster tödlich verwundet war, aber es war noch nicht bereit, sich geschlagen zu geben. Mit letzter Kraft griff es nach dem Speer, riss ihn aus dem Boden und zielte damit auf Jamie.
»Stirb!«, kreischte die Kreatur und kam auf ihn zu.
Jamie war unbewaffnet. Er blieb stehen, wo er war, bereit, jederzeit in die eine oder andere Richtung zu springen.
Doch dann sauste etwas durch die Luft, und im nächsten Moment ragten drei Metallpfeile aus der Brust des SkorpionMannes. Er taumelte zurück und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten. Zwei weitere Pfeile trafen ihn. Einer prallte von der schuppigen Haut ab, aber der andere bohrte sich in seinen Hals. Er kreischte ein letztes Mal. Dann verlosch das Licht in seinen Augen, und er brach zusammen.
Jamie drehte sich um und musste feststellen, dass ein Mädchen auf einem Pferd auf ihn zukam, gefolgt von drei erwachsenen Reitern. Die drei Männer waren ähnlich gekleidet wie er, und er dachte plötzlich an Beduinen, die durch die Wüste reiten – nur dass es hier keinen Sand und keine Sonne gab. Das Mädchen hatte seinen Bogen schon wieder auf den Skorpion-Mann gerichtet, doch als es sah, dass kein weiterer Pfeil nötig war, steckte es ihn zurück in den hölzernen Köcher auf seinem Rücken. Das Mädchen trug neben seiner normalen Kleidung ein schwarzes Armband, ein ausgefranstes rotes Halstuch, und an seinem Gürtel hing ein kurzes Schwert.
Ein Mädchen, das offensichtlich der Boss war. Jamie erkannte das an der Art, wie die Männer sich im Hintergrund hielten und auf Befehle warteten. Und das, obwohl sie bestimmt zehn Jahre älter waren, denn das Mädchen – Jamie versuchte, einen Eindruck nach dem anderen zu verarbeiten – war höchstens vierzehn oder fünfzehn, also in seinem Alter. Sie war sehr klein, hatte dunkle Augen, und Jamie vermutete, dass sie halb Europäerin und halb Chinesin war. Das war schwierig zu bestimmen, denn ihr Gesicht war weder europäisch noch chinesisch. Auf jeden Fall war es sehr schmutzig. Sie hatte schwarzes Haar, vorn kurz geschnitten und hinten mit einem weiteren Stofffetzen zusammengebunden. Ihr Hals war sehr schlank. Wenn Jamie es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, hätte er geschworen, dass diese zierliche Person niemals in der Lage wäre, einen Pfeil mit solcher Wucht abzuschießen und eine Kreatur zu töten, die mindestens doppelt so groß war wie sie.
Sie sah Jamie ganz merkwürdig an. Mit einem Handzeichen bedeutete sie den Männern, sich zurückzuhalten. Dann sprang sie vom Pferd und kam auf ihn zu. Einen Meter vor ihm blieb sie stehen und starrte ihm mit einer Mischung aus Erstaunen und Unglauben an.
»Sapling«, sagte sie.
Jamie wartete.
»Du bist es wirklich!«, rief das Mädchen aus. Sie sprach dieselbe Sprache wie der Skorpion-Mann und hörte sich fast ärgerlich an.
»Nein. Ich bin Jamie.«
»Jamie?«
»Ja.«
»Nein, bist du nicht. Du bist Sapling.«
»Ich kenne doch wohl meinen Namen«, widersprach Jamie. Dabei kam ihm der Gedanke, dass sein Name das
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