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Schattenmacht

Schattenmacht

Titel: Schattenmacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anthony Horowitz
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Rücken seines T-Shirts war vom Blut durchtränkt. Daniel konnte das Loch sehen, wo die Kugel eingedrungen war. Die Schamanin berührte die Eintrittswunde vorsichtig mit einem Finger.
    »Ist es schlimm?«, fragte Joe.
    »Es ist schlimm. Schlimmer könnte es kaum sein. Als Erstes müssen wir die Kugel rausholen. Gut, dass dein Feuer brennt. Wir werden es brauchen.«
    »Wird er am Leben bleiben?«
    Die Schamanin schüttelte den Kopf, als wollte sie eine solche Frage nicht hören. Sie drehte sich zu Daniel um. »Ich möchte, dass du ins Tipi gehst«, sagte sie. »Ich weiß, dass du bleiben und helfen willst, aber es gibt nichts, was du tun kannst, und das ist etwas, das kein Kind mit ansehen sollte.«
    »Bitte…« Daniel wollte widersprechen, aber ein Blick in die Augen der alten Frau sagte ihm, dass es reine Zeitverschwendung gewesen wäre. Er tat, wozu sie ihn aufgefordert hatte.
    Die Schamanin nickte Joe zu. »Zieh ihm sein T-Shirt aus.« Joe kniete sich neben Jamie. Er versuchte nicht, Jamie das TShirt über den Kopf zu streifen. Stattdessen ritzte er den Stoff mit dem Messer an und riss ihn dann auseinander. Rund um die Wunde war die Haut leuchtend rot und geschwollen. Die Schamanin war inzwischen zu ihrem Pferd zurückgegangen und hatte einen Lederbeutel geholt, der am Sattel festgebunden war. Als sie wieder bei dem bewusstlosen Jungen war, öffnete sie den Beutel und holte ein paar mit Sehnen zusammengebundene Verbandspäckchen, einige Schalen, zwei Glasflaschen und eine Art Zauberstab heraus, etwa zehn Zentimeter lang und mit einem geschnitzten Adler an der Spitze. Zum Schluss kam noch ein Messer. Joe betrachtete es und verzog das Gesicht. Es war nicht das typische Messer eines Medizinmannes, sondern ein modernes Skalpell.
    Sie begegnete seinem Blick. »Die Geister können nicht alles allein machen«, sagte sie. »Für den Anfang müssen wir die Kugel herausholen.«
    Joe nickte.
    »Sag mir Bescheid, wenn mein Tee fertig ist«, sagte die Schamanin.
    Sie beugte sich über Jamie und führte den ersten Schnitt aus.
     
    Daniel wartete, so lange er konnte. Er versuchte zu schlafen, aber jetzt, wo die Sonne hoch am Himmel stand, war es im Tipi unerträglich heiß. Er wünschte, er könnte mit seiner Mutter sprechen, aber er bezweifelte, dass Joe oder die Schamanin ein Handy hatten – außerdem war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um danach zu fragen. Irgendwann schlief er dann doch ein, denn als er die Augen wieder aufschlug, fielen lange Schatten über das Tipi, und auch die Hitze hatte nachgelassen. Wieder kroch er durch die Zeltklappe, unsicher, was ihn erwartete.
    Joe saß neben Jamie, der immer noch nicht besser aussah. Er lag auf der Seite und hatte einen Verband über seiner Wunde. Die Schamanin hatte die Wunde mit irgendetwas behandelt, das konnte er riechen und auch sehen, denn das Mittel sickerte durch die Bandage. Die Schamanin kniete ein Stück hügelabwärts, mit dem Gesicht zur untergehenden Sonne. Es war später Nachmittag. Der Himmel färbte sich schon rot. Das Lagerfeuer brannte noch, und ein dünner Rauchfaden stieg in den Himmel.
    »Wie geht es Jamie?«, fragte Daniel.
    Joe fuhr wütend herum. »Lass das!«, sagte er. »Du darfst seinen Namen nicht aussprechen.«
    »Warum nicht?«
    »Weil es so Brauch ist. Wenn jemand stirbt, darf man seinen Namen vier Tage lang nicht aussprechen.«
    »Wenn jemand…«
    Erst jetzt traf Daniel die volle Bedeutung von Joes Worten. »Sie meinen…?« Er zwang sich, den Satz zu Ende zu sprechen. »Ist er tot?«
    Lange Zeit herrschte Schweigen. Dann antwortete Joe. »Wir haben die Kugel herausgeholt«, sagte er. »Die Schamanin hat die Wunde mit Schafgarbe und anderen Kräutern gesäubert. Mehr konnte sie nicht tun. Er ist auf die andere Seite übergegangen.«
    Daniels Augen füllten sich mit Tränen. Er sah auf Jamie hinab, der so friedvoll dalag. Er konnte nicht fassen, dass die ganze Sache so geendet hatte. Er hatte Scott getroffen, Jamies Zwillingsbruder. Die beiden waren sich so ähnlich. Aber als Jamie am vergangenen Abend in seine Zelle gekommen war, schien es wie der Beginn einer neuen Freundschaft, das erste Kapitel einer Geschichte, die eigentlich noch viele Seiten hätte haben sollen.
    Und jetzt…
    »Ich dachte…«, begann Daniel, doch dann versagte ihm die Stimme. Er wandte sich ab und betrachtete die alte Frau, die etwas vor sich hin murmelte und den kleinen Zauberstab in der Hand hielt.
    »Was macht sie?«, fragte er.
    »Sei lieber still«,

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