Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
während er den ›Cocktail‹ durch ihren Körper fluten ließ, registrierte, wie ihr Atem flacher wurde und vermutlich bald ganz aussetzen würde. Ein Geräusch auf dem Flur ließ ihn aufhorchen. Eigentlich wollte er warten, bis sein Auftrag ausgeführt war, doch ein zweites Mal wollte er nicht erwischt werden. Eilends packte er sein Injektionsbesteck ein, nahm das Handy der Putzfrau und verstaute es in seinem Sakko. Kurz innehaltend, strich er noch über die Innenseite ihrer Oberschenkel. Noch war sie lebendig. Eine Tote würde er nicht vögeln, bei einer Bewusstlosen indes hätte er keine Skrupel gehabt. Dann drang wieder ein Geräusch an seine Ohren, als wenn ein Schlüssel in einem Schloss herumgedreht wurde. Verärgert ließ er von ihr ab und eilte zur Tür. Der Nachbar aus Zimmer 205 war zurückgekommen. Vielleicht nur, um etwas zu holen, vielleicht aber auch, weil alle anderen ebenfalls auf ihre Zimmer gehen wollten, eine dreißigminütige Pause angesetzt war, bevor das Meeting fortgeführt wurde. Zügig verließ er das Schlafzimmer, befand sich im Flur der Suite, öffnete vorsichtig die Haupttür und spähte hinaus. Das Schloss von Zimmer 204 rastete unhörbar in der Zarge ein und das Vibrieren des in seiner Tasche fremden Handys würde ihn zum nächsten Opfer führen.
*
In der edel eingerichteten Lobby angekommen, wartete man bereits auf ihn.
»Ist sie tot?«
Der Schwarzhaarige, den man Carlos nannte, nickte kaum wahrnehmbar. Er blickte auf sein Gegenüber herab, einen untersetzten, glatzköpfigen Fettklops, den er wegen seiner Pfunde und seiner Überheblichkeit verachtete. Leider war er mächtig, reich und hatte das Sagen in diesem Spiel. Der Dicke streckte die Hand aus und sah sich um. »Gib mir die Unterlagen!«, befahl er. Er hielt die Hand auf, seine Finger zuckten und forderten Schnelligkeit ein.
Carlos griff in die Tasche und übergab ihm die zierliche Kamera, mit der er die Unterlagen aus Sokolows Safe gescannt hatte.
»Das Handy der Putze!«, forderte ihn der Kleinere wieder auf.
»Er hat bestimmt gerade wieder angerufen. Es vibrierte, als ich das Zimmer verließ. Wir brauchen nur die Nummer zu wählen und sehen dann, wer drangeht.«
Der Empfänger des Handys blickte von unten den Langen entgeistert an. »Das weiß ich, du Schwachkopf. Denkst du, ich bin bescheuert?« Der Dicke schüttelte den Kopf. »Du bist solch ein Idiot, dich erwischen zu lassen. Eine tote Putzfrau in Sokolows Zimmer. Er ist sowieso schon am Ende mit den Nerven. Sie muss da raus, bevor er kommt.« Der Untersetzte rieb sich an der Wange. »Andererseits – sie könnte uns auch nützlich sein. Ja, so machen wir es. Lass sie liegen. Wir müssen uns beeilen, den Kerl zu finden, mit dem sie gesprochen hat. Zwei Leichen an einem Tag wären eine schlechte Bilanz. Die Putze werden wir später entsorgen, aber der andere Kerl muss sofort verschwinden. Schaffst du das wenigstens ohne Fehler?«
Der Schwarzhaarige presste die Zähne aufeinander. Seine Kaumuskeln spannten die Wangenhaut. Ohne Mühe hätte er ihm einen tödlichen Handkantenschlag auf den Kehlkopf verpassen können, gleich hier. Auf dem sauteuren Perserteppich hätte er ihn töten können. Er hätte ihm erzählen können, dass er Profi sei und er die Zwanzig anstrebe. 19 Leute umgebracht zu haben, 19 war eine Scheißzahl, aber ›zwanzig‹ klang gut. Stattdessen schluckte er seinen Zorn herunter und hoffte auf eine andere Gelegenheit, sich von diesem Kerl zu verabschieden. Zunächst aber wollte er die Zwanzig vollmachen, mit wem auch immer.
*
Dutroit wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Er hatte es über zehn Mal klingeln lassen, Annette antwortete nicht. Er wurde unruhig. Was war passiert?
Das Mittagessen der Mächtigen war beendet, es wurde abgedeckt. Gleich im Anschluss wurden die Vorbereitungen für das Abenddiner getroffen. Achtzig Leuten einzigartige Köstlichkeiten zu servieren, war purer Stress. Es waren ja nicht irgendwelche Gäste, die an diesem Wochenende bedient wurden. Diese Gäste waren verwöhnt und erwarteten nur das Beste. Noch dazu entstammten sie verschiedenen Nationen, besaßen äußerst divergierende Geschmackserwartungen und von deutschen Gepflogenheiten abweichende Tischmanieren.
Einige Teilnehmer waren sitzen geblieben und schwatzten heiter. Zumindest versuchten sie, unbeschwert zu wirken. Sie genossen einen Digestif, einen Cognac oder einen Grappa, anstatt aufs Zimmer zu gehen und die Beine auszustrecken.
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