Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Sie fanden, eine halbe Stunde sei zu kurz, um wirklich abschalten zu können. Abschalten im Sinne von losgelöstem Entspannen konnte niemand an diesem Wochenende.
Andere vertraten sich die Beine, gingen auf das parkartige Gartengelände, bewunderten den Blick auf die Elbe und rauchten. Selbst die Mächtigsten der Mächtigen durften ihre im Silberetui verstauten Zigaretten nicht im Hotel anzünden. Manche von ihnen hätten die noble Herberge mühelos mit einem locker gezückten Scheck kaufen können, um kurzerhand die Regeln zu ändern. Sie hätten den fehlenden Betrag auf ihrem Konto nicht einmal bemerkt. Doch was sollten sie mit noch einem Hotel? Leute wie Rockney empfanden dieses Hotel als eine Hundehütte und bei Weitem nicht profitabel genug.
Dutroit legte ein dienstbeflissenes Lächeln auf und schlich zwischen den Männern und den wenigen Frauen hindurch. Die meisten kannte er aus den Medien: Politiker, Regierende, Bankenchefs, Agenten und Staatsschützer jeder Nationalität. Den einen oder anderen rempelte er an. Gelegentlich wurde er von jenen, die ihn als zum Personal zugehörig identifizierten, angesprochen, ob er auch Drinks serviere. Er dachte, leck mich doch, hol dir deinen Scheiß- Drink doch selbst . Er antwortete zuvorkommend und höflich, dass er sogleich jemanden schicken werde. Nicht eine Sekunde dachte er daran, dies auch zu tun. Er suchte Annette, er machte sich Sorgen. Weniger um sie, mehr um die Mission an sich. Zu lange hatte er auf diese Chance gewartet. Jahre der Vorbereitungen, der Entbehrungen und der Geheimhaltung. Das Komitee akzeptierte ja schließlich nicht jeden Koch, sondern nur erstklassige, verschwiegene, integre Leute, auf die man sich verlassen konnte. Seine Vita war perfekt gewesen, nichts von dem, was er in der Bewerbung aufgeführt hatte, wurde angezweifelt, obgleich alles gelogen war. Natürlich konnte er kochen, ausgesprochen gut sogar, – eine seiner zahlreichen Begabungen. Im schlimmsten Fall hätte man ihn abgelehnt und er hätte es ein Jahr später erneut versucht. Doch er wusste, dass sie ihn nehmen würden, denn er war ein unbeschriebenes Blatt. Ein französischer Koch mit deutschen Vorfahren, einem hervorragenden Leumund, Zeugnisse von den besten Restaurant- und Hotelküchenchefs Frankreichs.
Er hastete durch Flure und Hotelgänge. Er schritt die Etagen ab und suchte seine Komplizin. Das Gespräch hatten sie hier, in Zimmer 204, beendet, die Tür war verschlossen. Was war danach geschehen? In welchem der vielen Räume steckte sie? War womöglich nur der Akku leer?
Dutroit blieb im zweiten Stockwerk inmitten des Ganges stehen. Die Augen für einen Moment geschlossen, atmete er tief durch. Alles wird gut, ermahnte er sich. Er drehte sich um und nahm den Fahrstuhl. Er fuhr allein und resümierte: Hatte es sich nicht schon für ihn gelohnt? Den ganzen Vormittag über liefen die Kameras und die empfindlichen Mikros zeichneten jeden noch so leisen Furz auf und schickten alle Daten zu seinem Server. Wichtiger schien ihm jedoch der Abend zu sein, wenn die Leute sich nach der Konferenz zu ihren völlig überteuerten 200-Dollar-Malt-Whiskeys und Edelzigarren ins Kaminzimmer zurückzogen, der einzige Raum, in dem das Rauchen gelegentlich geduldet war. Abseits des Offiziellen wurden die richtig großen Geschäfte gemacht, Visionen geteilt, Geheimnisse verraten. Man verband Notwendiges mit Nützlichem. Warum sollte man nicht die Kontakte, die sich einem boten, zu seinem Vorteil ausnutzen?
Im Erdgeschoss ergriff die Furcht erneut Besitz von ihm. Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich. Ist sie aufgeflogen? Wurde sie erwischt? Hat sich ein Gast über sie beschwert? Warum geht sie nicht wenigstens ans Telefon? Er hetzte durch die Hotelhalle und wollte gerade den Treppenabsatz in den unteren Hotelbereich hinuntereilen, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte und leise klingelte. Ohne sich umzuschauen, kramte er es hervor. Er fiel ohnehin schon auf: ein Koch, der sich außerhalb seines Tätigkeitsbereiches aufhielt, panisch nach allen Seiten hin umsah, nur nicht in dem Moment, als sein Handy klingelte. Gerade dann hätte er es tun müssen.
Er erkannte die Nummer, atmete erleichtert auf und nahm das Gespräch an. Er erwartete nichts anderes, als Annettes Stimme am anderen Ende zu hören. Sie würde ihm erzählen, sie hätte aufs Klo gemusst, wie Frauen nun mal so sind, wenn sie im Stress sind – immer müssen sie pinkeln. Oder sie sei erwischt worden und musste sich
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