Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
Reichstein zu decken. Ungesetzlich, sein Versteckspiel, seinen Drogenkonsum, seine kriminellen Computermanipulationen nicht anzuprangern. Doch was, wenn alles ganz anders wäre? Was, wenn Jerome nicht Freund, sondern Feind wäre?
Martin setzte sich aufrecht auf seiner Bettkante hin und nahm die Maske vorsichtig ab. Das Silikonteil, das ihn metamorphierte, war fragil und empfindlich und es schien, als würde es sich mit der Zeit verändern. Es juckte mehr und mehr. Das Problem war die Konsistenz. Das Silikon wurde stellenweise weicher, gleichzeitig brüchig durch den Kontakt mit Schweiß, vor allem mit den beißenden chemischen Bestandteilen von Angstschweiß. Jerome hatte ihm gezeigt, wie er die Maske pflegen, wie er sich schminken müsse, wie er die Augenbrauen mit Liner nachziehen müsse. Er hatte ihm vorgemacht, wie er die Ränder an den Ohren und am Haaransatz adaptieren müsse, damit man keinen Übergang sehe. Sie schmiegte sich an die Haut an wie eine Geliebte und saugte sich durch Adhäsion dort fest. Das Material war nicht überall gleich dick. An den Rändern war es sehr dünn, die Wangenknochen von Norbert Wagner indes waren prominent und markant dargestellt. Die Nase war größer als Martins. An ihrer Seite, gleich neben der Nasolabialfalte, schaute man auf ein kleines Bürzel mit wenigen Haaren: in der Größe des Muttermals von Cindy Crawford, nicht groß genug, um eine chirurgische Entfernung für nötig zu erachten, eher so klein, dass man es für echt hielt. Der Teint war deutlich dunkler als Martins, sonnenverwöhnt, Haut ohne Pickel und Unreinheiten, ein Kunstwerk.
Martin dachte an den Tag, als Jerome einen Abdruck von seinem Gesicht genommen hatte. Wie konnte er sie nur in so kurzer Zeit zu solch einer Perfektion bringen? So täuschend echt, dass selbst die Carstens auf ihn hereinfiel.
Er schaute auf die zerknautschte Fratze herab, wie sie neben ihm auf dem Bett lag. Ein Gesicht lag dort, mit Höhlen für Augen, Nasenlöcher und Mund, und doch, sie wirkte vollendet, sie schien zu lächeln, doch die Vollkommenheit begann zu bröckeln. Er brauchte sie noch eine Weile, noch dürfte sie nicht schlappmachen, obwohl sie gerade genau so neben ihm dalag: schlapp und leblos. Vielleicht so leblos, wie der Mensch, dessen Gesicht für ihre Herstellung Modell gestanden hatte.
Da waren sie wieder, diese schmerzhaften Gedanken, die Martin nicht mochte und die er nicht denken wollte. Sie drängten sich ihm in den letzten Tagen zunehmend auf. Obgleich es Gedanken waren, die zu einem Ermittler passten: Wer sind oder waren die Männer, die Besitzer dieser Gesichter, die Jerome bei sich beherbergte? Die er nach Belieben zu seiner eigenen Haut machte, in deren Identität er schlüpfte, wann immer es ihm gefiel. Mit denen er seine Umgebung zum Narren hielt, so wie er selbst, Martin, es gerade auch tat. Dieser letzte Gedanke ließ ihn kurz grinsen. Ein Spiel für große Jungs. Es gefiel ihm für eine Weile, seine Umgebung zu täuschen. Nicht nur die alte Carstens und die Studenten im Haus, sondern die ganze verseuchte Abteilung, die hinter ihm her war. Abgesehen davon, dass es im Moment leidige Pflicht war, dies zu tun, gefiel es ihm deshalb, weil er sich nicht einfach nur plump versteckte und bibberte und auf seine Verhaftung wartete für eine Tat, die er nicht begangen hatte. Er wehrte sich, war aktiv, agierte aus dem Untergrund heraus. Würde er sich ohne Maske auf die Straße trauen, würde jede Kamera sein Gesicht erfassen und binnen Minuten hätte man ihn gefasst. Wenn nicht auf diese Weise, würde er überall digitale Spuren hinterlassen. Martin fasste seine Situation zusammen: Diese abartige und doch geniale Kopie eines anderen Menschen gab ihm die Möglichkeit, etwas zu tun, was ihm sonst nicht möglich wäre. Sich unerkannt in die Höhle des Löwen zu wagen. Einen anderen zu spielen, vielleicht einen Mächtigen, einen Einflussreichen, einen Gefährlichen, einen, der in der Lage wäre, einen heimtückischen Plan zu boykottieren.
Im Bad stieg Martin unter die Dusche und wusch sein altes Ich vollständig ab. Ein Plan reifte in ihm heran, der ihm sein Leben wieder zurückgeben würde. Nicht ganz legal, doch was war schon legal in diesem Fall.
Kapitel 39
Juli 2011, Hamburg-Eimsbüttel
Martin rubbelte die kurzen Haare trocken, es dauerte keine zwei Minuten, er benötigte keinen Fön. Ohne Bart und lange gelockte Haare wirkte er nun um einige Jahre jünger. Die Jeans schlackerte um die Taille herum, der
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