Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
gezogen, sich zu stellen. Dort, auf dem tschechischen Land, als er über die Baumwipfel blickte, die nicht erholsam, sondern trostlos auf ihn wirkten, traf er die Entscheidung, der ganzen leidigen Sache ein schnelles Ende zu machen. Dies hätte jedoch bedeutet, der Lüge anderer zuzustimmen. Ihnen zu einem Triumph zu verhelfen, einer Sache Vorschub zu gewähren, die die Entmündigung des Menschen zur Folge haben sollte. Sogar, falls diese Sache mit dem tödlichen Potenzial des Chips stimmen sollte, würde er sich durch sein Mitwissen zum Mittäter machen. Und das als Polizist. Dies konnte er nicht tun. Dafür war er nicht Bulle geworden. Kein brillanter, zugegeben, aber doch jemand, der üble Machenschaften Mächtiger zum Nachteil Schwächerer hasste. Somit hatte er keine Wahl. Er musste handeln oder verlieren, und zwar nicht nur seinen Job, sondern vor allem seine Achtung vor sich selbst.
Martin betrat seine Wohnung und schloss hinter sich zu. Er ging zur Balkontür und öffnete sie, um den Mief mit Stadtluft zu verdünnen. Er trat auf den Balkon und blickte direkt in die hinter einer dicken Hornbrille versteckten Augen des Nachbarn von der anderen Straßenseite. Herbert Kryzischke, zwischen sechzig und siebzig, Rentner mit endlos viel Zeit. Ein Schwätzer, dem Martin in der Regel, auch in früheren Zeiten, aus dem Weg ging. Kryzischke hatte das Fenster geöffnet, ein Kissen auf den Sims gelegt, seine Ellbogen darauf gestützt. Neben ihm stand ein Fernglas aus alten Tagen. Tagen von vor November 1989, als die Grenze zur BRD geöffnet wurde und er seinen Job als Stasispitzel verloren hatte. Geblieben war die Erinnerung an ein System, dem er immer noch nachhing, sein altes grünes Fernglas von Carl Zeiss und sein Dialekt, mit dem er von Ost-Berlin nach Hamburg gezogen war.
»Na, det war ja ’n nettes Früchtchen, Ihr Vormieter, wa?«, brüllte er ungeniert über die Straße. Vielleicht zwölf Meter Distanz.
Martin zuckte mit den Achseln. Es dauerte einen Augenblick, bis er begriff. Er dachte noch rechtzeitig daran, wen er gerade vorgab darzustellen. Der Alte machte weiter, bekam ja keine Antwort von Martin.
»Is nich so jut jelofen für den Herrn Pohlmann, wa? Jezz sind se schon hinter ihm her, wa.« Der Ex-Ossi deutete mit dem Fernglas in der Hand auf den inarisgrünen Passat. »’nen Minister abzumurksen, is ja och ’n starkes Stück, wa. Hätt ick ihm jar nich zujetraut. Aber ick hab et ja jleich jewusst, wa. So wat sieht ’n Mann wie icke auf ’n ersten Blick.«
Arschloch. Martin hob die Hand zum Gruß. Jedes Wort, wenn auch verstellt, wäre zu viel gewesen. Kryzischke, blödes Arschloch. Er schloss die Tür und zog entschlossen die Gardine samt lichtdichtem Vorhang zu. Dies tat er ebenso bei allen anderen Fenstern, die zur Straßenseite zeigten.
Es war dunkel und still. Endlich.
Im Schlafzimmer warf sich Martin rücklings aufs Bett und dachte nach. Was sollte er als Nächstes tun? Er fühlte sich einsam als Norbert Wagner in seiner alten Wohnung. Schizophren, fasste er die Lage für sich zusammen. Eigentlich war er ja der Alte, nur wenn er in den Spiegel schaute, erschrak er. Wie musste es Jerome gehen, sich gleich mehrerer Identitäten zu bedienen? Wie viele waren es doch gleich? Fünf oder sechs? Martin rief sich den Unterschlupf Jeromes ins Gedächtnis, den man nicht als Wohnung bezeichnen konnte. Ein Versteck, notdürftig den Anforderungen menschlichen Lebens angepasst, abgeschottet von der Außenwelt, ausgestattet mit sich drehenden Linsen und Objektiven vor Türen und Fenstern, alles sehend und überwachend und doch von niemandem als dort lebendes Individuum wahrgenommen. Noch nicht. Keine Freunde, keine sozialen Kontakte; Nachbarschaft, Skatabende, ’nen Bierchen mit Kumpels und diese Dinge. Ein Mann, der mehrmals umgezogen war, auf der Flucht. Scheiße, wie öde.
Noch fühlte sich Jerome einigermaßen sicher, obgleich er den ersten Fehler bereits begangen hatte. Martin wusste, wo er wohnte, und könnte ihn, wenn er wollte, an die Obrigkeit ausliefern, um seine eigene Haut zu retten, um sich selbst reinzuwaschen. Bei all den Geräten, Rechnern und Verschlüsselungsapparaten wäre er für die Kripo ein Festschmaus, das wusste er ganz genau.
Martin riss die Augen wieder auf und sah an die weiße, jugendstiltypische hohe Decke. Da war sie wieder. Hatte sich heimlich reingeschlichen: Die Lüge. Für ihn, in seiner Eigenschaft als Polizeibeamter, ein Vergehen, eine Lüge, Jerome oder Frank
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