Schattenmächte: Kriminalroman (Krimi im Gmeiner-Verlag) (German Edition)
immer gut und provozierte höchstens ein respektvolles Nicken der Leute. Die blaue Strickmütze in die Stirn gezogen, ging Jerome als Karl-Heinz Lamprecht tief gebückt in Richtung des Bauzauns, der das Gebiet lieblos und vor allem sinnlos absperrte. Der Asphalt war an vielen Stellen aufgebrochen, unbehandelte Frostschäden, in denen durch die Luft flirrende Unkrautsamen sesshaft geworden waren und sich ausbreiteten. Brennnesseln, Löwenzahn, Gänseblümchen und anderes Gestrüpp führten jedem Besucher die unwirtliche Seelenlosigkeit dieses Gebietes vor Augen.
Der Hintereingang war nur von der Uferseite begrenzt. Kapitäns- und Matrosenblicke von der Flussseite wurden durch rote, grüne und gelbe Container gefangen genommen. Hoch aufgestapelt, in der Abendsonne verrottend.
Jerome schlüpfte zwischen zwei Containern hindurch, warf den Seesack durch ein Fenster mit zerborstenem Glas, sah sich noch einmal nach links und rechts um und hüpfte behände hinterher. Nun war er zu Hause, beinahe. Sein Weg führte ihn zunächst durch dunkle Gänge, vorbei an einer leer stehenden Lagerhalle, an Büroräumen, in denen nicht entsorgte, defekte Röhrenmonitore standen, vorbei an den Toilettenanlagen. Die Tür zum Keller war verschlossen, den Schlüssel besaß er.
Dann stieg er die Stufen hinauf – gelegentlich nahm er den betagten Fahrstuhl, wenn er es eilig hatte – in den sechsten Stock. Oben angekommen, schnaufte er, warf den Seesack in die Ecke vor der Tür und schloss das Sicherheitsschloss mit Zahlencode auf. Die kleine Kamera rechts über seinem Kopf begrüßte ihn surrend. Er zwinkerte hinein, eilte zu seinem als Schreibtisch umfunktionierten Küchentisch und öffnete die Packung seiner bevorzugten Pillen. Er drückte zwei davon heraus und warf sie sich in den Schlund. Ohne Wasser zu sich zu nehmen, schluckte er sie. Dann griff er zu einer anderen Dose. Sie war noch bis zur Hälfte mit losen Kapseln gefüllt. Er schüttete drei, vier in die hohle Hand und würgte auch sie hinunter. Er schloss die Augen und legte den Kopf zur Seite. Die Nackenwirbel knackten und allmähliche Entspannung legte sich um seine Nerven wie der väterliche Arm, den er nie auf seiner Schulter hatte liegen spüren. Ein letzter Blick auf die Monitore: alles ruhig, so wie immer in den letzten Monaten. Diese Bude war wirklich ein Volltreffer gewesen. Er sah auf die Uhr. Noch eine Stunde bis zur einsetzenden Dämmerung. Er verdunkelte die Etage, bis keine Lichtquanten mehr eindrangen und auch keine nach außen flüchten konnten. Dann machte er Licht. Er ging nach nebenan, warf sich in einen abgewrackten Sessel und gähnte.
»Hallo, Karl-Heinz. Na, wie war dein Tag?«
»Danke, gut, mein Lieber. Anstrengend. Und deiner?«
»Super. Hätte nicht besser laufen können. Auftrag ausgeführt. Bin sehr zufrieden mit mir.«
»Hat er was gemerkt?«
Jerome wiegelte ab und grinste süffisant. »Ach was. Wo denkst du hin?«
»Und? Was ist mit Pohlmann? Wie weit bist du mit ihm? Hat er eine Ahnung davon, dass er dabei draufgehen wird?«
Jerome schnaubte hörbar. Er saß vor dem Spiegel und entfernte die Maske.
»Unsinn. Bin doch kein Anfänger.«
»Ein Kollateralschaden, meinst du.«
»Die wird es immer geben. Was sind schon ein paar Leute mehr oder weniger, wenn es darum geht, die Welt zu retten.«
»Stimmt. So gesehen … Aber ich mag ihn. Er ist okay. Netter Kerl. Nicht so hinterfotzig wie die anderen.«
»Trotzdem. Er ist ein Bulle und nicht unser Freund.«
»Vielleicht aber doch für eine Weile. Ich kann gut mit ihm quatschen.«
Eine Pause entstand.
»Was willst du als Nächstes tun?«
»Weiß nicht. Will ihn mal mit herholen.«
»Bist du wahnsinnig? Viel zu gefährlich.«
»Ach was. Bin vorsichtig. Wirst sehen. Außerdem – was spielt es für eine Rolle? Tote können nicht quatschen, oder?«
Jerome betrachtete sich im Spiegel und wischte sich die letzten Reste des Mannes aus dem Gesicht ab, den er gespielt hatte. Die Medizin wirkte und machte ihn glücklich.
Nur die therapeutisch notwendige Wirkung hatte sie nicht.
*
Am späten Nachmittag des nächsten Tages rief Martin Werner auf dem Handy an. Die Leitung des Präsidiums wollte er nicht benutzen, nicht, wenn es galt, Details aus der Biografie von Reinhard Schöller in Erfahrung zu bringen. Das Handy vibrierte in Werners Hose, in dem Moment, als er bei Lorenz im Büro saß. Der Aktenberg zu dem Mordanschlag auf Lohmeyer wuchs stündlich und wurde von einem Schreibtisch zum
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