Schattenmelodie
Bettüberwurf an, legte sich darunter und sah aus dem Fenster. Ein paar Minuten lag sie regungslos da. Dann schlüpfte sie auch noch unter die alte Steppdecke, zog sich die Kapuze ihrer Weste über den Kopf und die Decken bis unters Kinn. Für einen Menschen war es ziemlich kalt hier oben. Das Thermometer zeigte draußen nur knapp über null Grad an.
Vom Eingang her würde man meine Einkaufstüten jetzt sehen können, weil der Überwurf sie nicht mehr verbarg. Aber es war unwahrscheinlich, dass noch jemand außer Grete den Dachboden betrat.
Ich trat auf sie zu, hockte mich an ihr Kopfende, während sie mit dem Gesicht abgewandt von mir lag, und versuchte, ihren Gedanken zu lauschen. Aber ihr Innerstes schien sich in Granit verwandelt zu haben. Ich fand keinen Zugang zu ihrer Gedankenwelt. Sie lag einfach nur da und starrte aus dem Fenster, bis sie mit blassen Lippen und zitternd vor Kälte den Dachboden wieder verließ.
Es war kurz nach Mitternacht als Tom nach Hause kam, und ich hatte Glück. Zuerst hörte ich von meinem stillen Platz auf dem Dachboden die Wohnungstür, einige Minuten später das Knarren der Türen des alten Kleiderschranks. Er war auf dem Weg in sein geheimes Zimmer. Dann klang Klaviermusik herauf. Nicht seine eigene Komposition, sondern einige Präludien von Bach.
Ich machte mich auf den Weg. Diesmal war das Küchenfenster verschlossen, aber das stellte kein Problem dar. Die Wohnungstür besaß einen Briefschlitz, durch den ich bequem hineingelangen konnte.
Ich setzte mich auf die Matratze in der Ecke. Von hier aus sah ich Tomaso seitlich am Flügel sitzen und hatte einen Blick auf die Tasten, die Notenblätter und sein Profil. Seine Nase konnte man aristokratisch nennen, mit einem Huckel an der Nasenwurzel, aber von da an scharf geschnitten und gerade. Tom, der Barkeeper, schien völlig verschwunden, als wäre er immer noch hinter seinem Tresen und würde Biergläser spülen, während Tomaso hier saß und Klavier spielte – zwei völlig unterschiedliche Menschen.
Ich erhob mich wieder, schlenderte ein wenig durch den Raum und sah mir die Notenblätter näher an, die überall auf dem Boden lagen. Es waren immer neue Variationen des gleichen Stücks. An der Stelle, wo er nicht weiterkam, befanden sich wütende Streichungen. Ob es sein erster Versuch war, etwas zu komponieren?
Tomaso spielte die ersten Takte seiner eigenen Komposition. Ich stand jetzt dicht hinter ihm. Die Musik durchdrang wie ein Rieseln meinen ganzen Körper, den ich spürte, obwohl er sich aufgelöst hatte. Sein Haarschopf bewegte sich leicht vor mir. Er spielte nicht nur mit den Händen, sondern mit seinem ganzen Körper. Am liebsten hätte ich ihm über das Haar gestrichen, damit die Takte aus ihm flossen, so wie sie sein sollten, ohne die Unterbrechung an der Stelle, wo er nicht weiterkam. Ich erschrak über dieses Bedürfnis. Noch nie hatte ich jemanden anfassen wollen, nur weil er gute Musik machte.
Und dann brach er an der leidigen Stelle ab, schloss abrupt den Deckel des Flügels und rief laut: „Es macht einfach keinen Sinn!“
Seine aufkommende Wut ging wie eine Welle von ihm aus, sodass ich einige Zentimeter zurückwich. Mit der Welle kam der nächste Satz, den er zu sich selbst sprach: ‚Was willst du? Du bist ein Barkeeper und gut ist!‘
Sein Satz gab mir die Gelegenheit, ein inneres Zwiegespräch mit ihm zu beginnen: ‚Tom ist ein Barkeeper, aber du, Tomaso, bist durch und durch ein Komponist.‘
‚Hör auf, dir so einen Blödsinn vorzumachen, werde endlich erwachsen. Frag deinen Vater, der weiß, was du kannst und was du nicht kannst. Außerdem ist Tomaso ein bekloppter Name. Der Name eines reichen Weicheis.‘
Tom stand so heftig auf, dass die Klavierbank umkippte.
Okay, das klang eindeutig. Hinter Blockaden steckten oft andere Menschen, die sich im Inneren meiner Schützlinge zu Riesen aufgebläht hatten. Natürlich war dieser Vater im Unrecht. Das lag auf der Hand.
‚Dein Vater hat keine Ahnung‘, konterte ich.
‚Natürlich hat er keine Ahnung!‘, brauste Tom auf.
Sein gesundes Selbstbewusstsein meldete sich, es war ein wenig verschüttet, aber es war vorhanden. Das war ein gutes Zeichen und hieß, ich konnte ihn auch härter anfassen, wenn es sein musste.
‚Dann mach weiter!‘
‚Es geht nicht weiter. Es geht einfach nicht weiter!‘
‚Du bist nicht der Erste, der in einem Schaffensprozess so eine Phase durchmacht.‘
‚Ach, halt doch die Klappe.‘ Tom hob ein paar
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