Schattenmelodie
Notenblätter vom Fußboden auf und zerriss sie.
‚Findest du nicht, dass du vor dich hinwütest, als wärst du im Kindergarten?‘, versuchte ich es weiter.
Auf diese Frage kam jedoch keine Antwort. Ich spürte, wie Tom dicht machte und sich gegen die innere Zwiesprache verwehrte. Meistens konnten Menschen nicht verhindern, trotzdem in sich hineinzuhören, wenn ich ihnen etwas zu sagen hatte. Doch Tom gelang das, und das versetzte mich in Erstaunen. Er war jemand, der ungewöhnlich starke Schutzmechanismen aufgebaut hatte. Sein Vater hatte vermutlich ernsthaft seine Identität bedroht, oder bedrohte sie sogar immer noch.
Tom schmiss sich auf seine Matratze und vergrub sein Gesicht in einem Kissen. Es ging eigentlich nur um ein kleines Musikstück, aber es schien ihm ungeheuer wichtig zu sein. Ich hätte zu gern die Klavierbank aufgehoben. Es störte mich, wie sie da wie eine Kapitulation herumlag.
Ich hoffte, dass Tom die Anfänge seines Werks noch woanders notiert oder wenigstens im Kopf aufbewahrt hatte. Denn was auf dem Boden lag, hatte er inzwischen in hunderte Schnipsel verwandelt. Ich versuchte noch einmal, Zugang zu seinen Gedanken zu finden, aber ich prallte ab wie an einer meterdicken Tresortür. Er lag reglos da, als wäre er in eine Art Starre gefallen. Und ich musste gehen, es war Zeit.
Ich kam in dieser Nacht noch vier Mal wieder.
Beim ersten Mal schaute ich mir den Rest seiner Wohnung an. Er bewohnte alle drei der vorderen Zimmer, falls man das „bewohnen“ nennen konnte. Denn die Kachelöfen schienen ewig nicht mehr befeuert worden zu sein und die Zimmer waren fast leer, der Lack auf dem Parkett war komplett abgetreten. In jedem Zimmer stand höchstens ein Gegenstand; im ersten ein altes Sofa, im zweiten ein Schaukelstuhl und im dritten Zimmer befand sich ein massives Bett, das jedoch nicht so aussah, als würde Tom hier schlafen. Das Mobiliar hatte diese Wohnung bestimmt seit hundert Jahren nicht verlassen. Was mich erstaunte, waren die vielen Pflanzen, Zimmerpalmen und Kakteen. Sie waren die eigentlichen Bewohner der Räume, und Tom schien sie mit Hingabe zu pflegen.
Auch als ich das zweite Mal um drei Uhr nachts wiederkam, dann das dritte Mal früh um fünf Uhr, vormittags um neun und später um elf, lag Tom noch immer auf seiner Matratze. Ich versuchte, ihn über einen Traum zu erreichen. Meist war das der wirkungsvollste Weg, an Menschen mit undurchdringlichem Schutzschild doch noch heranzukommen. Hier versagte ihre Abwehr. Man konnte ihnen dann einen schönen Traum spinnen, in dem sich ihr größter Wunsch erfüllte. Das gab ihnen oft Kraft und tat manchmal sogar Wunder.
Doch auch das funktionierte nicht. Tom träumte einfach nichts. Die Weiten seiner bewussten und unbewussten Welt blieben mir verschlossen, wie undurchdringliche Dunkelheit. Es half nichts, ich musste endlich zurück nach Hause. In der magischen Welt würde es inzwischen Mitternacht sein.
Kapitel 8
Schon als ich mich über die Dächer hinaufschwang, die Kugel des Fernsehturms immer kleiner unter mir wurde und die Engel wie bewegliche Nebelbänke den Durchgang für mich freigaben, sodass der sternenglänzende Nachthimmel der magischen Welt sichtbar wurde, erfuhr ich, dass etwas nicht stimmte.
Einige der Engelwesen flirrten um mich herum, begleiteten mich in meinem Flug bis hoch zu der Klippe und flüsterten immerzu: ‚Es ist was passiert. Es ist was passiert. Es ist was passiert …’
„Was ist passiert?“, fragte ich Lilonda, die dicht neben mir flog.
Sie flüsterte in meinem Kopf: ‚Ein Mensch ist in die magische Welt eingedrungen. Ein Mensch …’
Heute imitierte sie nicht mein Gesicht, sondern erschien in der Wolkengestalt einer dünnen Frau mit Hosen und kurzen Haaren. Ob das die Gestalt war, mit der sie sich am meisten identifizierte?
„Ein Mensch? Wie das? Durch welchen Durchgang?“
Aber das konnte sie mir nicht beantworten.
Ich ließ mich auf der Klippe nieder, schüttelte mich ein wenig, erhielt meine Gestalt zurück und spürte sogleich die Unruhe im magischen Wald. Ein leichter Wind bewegte die Baumwipfel. Einige Blüten segelten durch die Dunkelheit und leuchteten grün. Wenn die Blüten sich verfärbten und noch dazu in der Nacht unterwegs waren, war das Geschehnis elementar. Ich machte mich sofort auf zum Rat.
Schon aus einiger Entfernung konnte ich die gedämpften Stimmen der Ratsmitglieder und einiger Leute mit Ätherfähigkeiten, die sich um Studenten kümmerten,
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