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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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Kopf verdrehen würde, schließlich hatte er jede Masche drauf.
    Wieso konnte man das Herz von Teenagern nicht einfach eine Weile anhalten, wenigstens solange, bis sie sich zurechtfanden in der Welt? Danach wäre dann immer noch genug Zeit, um sich mit der Liebe zu befassen.
    Kling, machte es leise. Eine Blüte landete auf dem Fensterbrett. Sie leuchtete noch ein bisschen. Ich nahm sie auf die Handfläche und betrachtete sie eine Weile. Dann entließ ich sie wieder in die Nacht und schaute zu, wie sie davonschwebte.
    Was für ein Glück, einfach ein Engel zu sein. Ein Engel, der über diesen Dingen stand, die in der Herzgegend nur wehtun.
    Ich trat vor den Spiegel, strich meine braunen Locken glatt und beobachtete das leichte blaue Flimmern, das aus meinen Augen kam, weil Menschen mit magischen Begabungen Licht durch ihre Augen abgeben. Und da passierte es wieder! Ich sah mich, aber hatte plötzlich den Eindruck, dass für den Bruchteil einer Sekunde nur eine Nebelgestalt von der anderen Seite zurückblickte. So unbestimmt wie die echten Engel, die im Ätherübergang zwischen den Tag- und Nachthimmeln der magischen und der realen Welt schwebten. Sie konnten die Gesichter von anderen Menschen annehmen, aber sie hatten keine eigenen.
    Erschrocken legte ich die Hände übereinander auf meine Brust. Dahinter war es still. Mein Herz spürte ich schon lange nicht mehr, genau genommen seit sieben Jahren, als ich mit fünfzehn in die magische Welt gelangt und ein Engel geworden war. Normalerweise beruhigte mich das. Es bedeutete, frei von Schmerzen und von Sehnsucht zu sein. Aber was hatte es mit diesen Anfällen auf sich? Würde ich meine menschlichen Eigenschaften irgendwann ganz verlieren und ein Elementarwesen werden?
    Aber das wollte ich nicht! Ich wollte ein Engel sein, doch ich wollte ebenfalls Neve bleiben. Neve, die auch ein Mensch war, nur eben befreit von allen Nachteilen, die das mit sich brachte.
    Ich tat einen entschlossenen Satz aus dem Sichtfeld des Spiegels und begann, vor mich hinzusummen, um mich zu beruhigen. Ich besaß besondere Fähigkeiten. Ich konnte den Gefühlen der Menschen nachspüren und Zwiegespräche mit ihren inneren Stimmen beginnen, um ihnen zu helfen. Ich konnte mich unsichtbar machen. Ich konnte fliegen. Warum sollte ich mich nicht hin und wieder als Nebelschleier im Spiegel wahrnehmen? Bestimmt war es kein Zeichen, dass ich mich irgendwann auflösen würde. Meine Unruhe musste mit Kira zusammenhängen. Mit der Sorge, meiner Aufgabe als beschützender Engel nicht gerecht zu werden, weil Kira ein schwieriger Fall war. Dabei durfte ich nur nicht zulassen, dass sich ihre Ängste auf mich übertrugen.
    Ich fasste einen Entschluss. Es machte keinen Sinn, weiter am Schreibtisch zu sitzen, wenn ich mich nicht konzentrieren konnte. Am besten, ich reiste jetzt gleich in die reale Welt und nicht erst, wie geplant, morgen früh.
    In der realen Welt, das hieß in Berlin, war die Zeit bereits um zwölf Stunden fortgeschritten. Es würde also früher Nachmittag sein. Das passte gut. Ich konnte Tim nach Schulschluss vor der Schule abfangen, eine Weile neben ihm hergehen und herausfinden, in welcher Verfassung er war, und dann all die Dinge erledigen, die ich mir vorgenommen hatte: ein bisschen auf dem Wochenmarkt am Kollwitzplatz einkaufen, Kira benötigte noch ein paar T-Shirts, und natürlich würde ich meinen Job machen, jemanden finden, der Hilfe brauchte, und ihm ein paar aufmunternde Worte zuflüstern oder den richtigen Gedanken eingeben.
    Gegen Abend, wenn die Staatsbibliothek bereits geschlossen wäre, würde ich dort noch ein bisschen „herumgeistern“ und in der alten Kartographie stöbern oder in dem Buch weiterlesen, das ich beim letzten Mal zufällig entdeckt hatte. Es handelte sich um einen Roman aus dem 18. Jahrhundert, der noch nie ausgeliehen worden war. Er hieß Welt hinter der Welt und schien die magische Welt zu beschreiben. Solche Romane stammten nie von Eingeweihten mit magischen Kräften, sondern von Leuten, die Ahnungen hatten, vielleicht Eingeweihte gekannt hatten, ohne es zu wissen, oder doch mal ins Vertrauen gezogen worden waren, an magische Blasen glaubten oder auch nicht glaubten und dann die Sache in Büchern verarbeiteten.
    Ich öffnete meinen Kleiderschrank und wählte dicke Wollstrumpfhosen, einen Rock aus warmem Cord, einen Rollkragenpullover und eine gefütterte Weste. In Berlin war es Ende Oktober und die Temperaturen sanken in der Nacht bereits unter null Grad. Als

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