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Schattenmelodie

Schattenmelodie

Titel: Schattenmelodie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daphne Unruh
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Wohnungstür. Einige Augenblicke später sprang er an mir vorbei die Treppen herunter, bekleidet mit einer dunklen Jeans, schweren Wanderstiefeln, einem schwarzen Shirt, dessen Kapuze er sich tief in die Stirn gezogen hatte, und einer gefütterten Weste aus braunem Wildleder. Erst jetzt fiel mir auf, dass er mindestens einen Kopf größer war als ich. Ich überlegte nicht lange und folgte ihm.
     
    Tomaso Wieland lief gemächlich, aber er spazierte nicht, was bedeutete, dass er ein bestimmtes Ziel hatte. Er bog in die nächste größere Straße ein, ging eine Weile geradeaus, überquerte die Danziger und die Straßenbahnschienen in ihrer Mitte, lief die Kollwitzstraße entlang und wandte sich nach links in die Wörtherstraße. Ich versuchte, seine Stimmung zu erfassen. Da war nichts Negatives, aber auch keine Euphorie, eine gewisse Leere im Kopf. Er funktionierte einfach nur, so wie diese Leute, die zu ihrer monotonen Arbeit gingen. War es das?
    Ich spürte, dass ich meinen Zustand nicht länger beibehalten konnte. Ich brauchte dringend eine Pause, aber ich wollte auch wissen, wohin er unterwegs war. Ich ließ ihm einen kleinen Vorsprung, prüfte, ob mich jemand beobachtete, begab mich für ein paar Augenblicke in die Nische eines Hauseingangs und wurde sichtbar. Dann trat ich wieder hervor … und konnte ihn nicht mehr sehen.
    Wo war er so schnell hin? Ich eilte zur nächsten Straßenecke. Ah, da lief er ja, er war nach rechts abgebogen. Ich folgte ihm in größerem Abstand. Am Ende der Straße kam der Wasserturm in Sicht und wir kamen an dem Haus vorbei, in dem Kiras Eltern wohnten.
    Hinter dem Hügel, der sich neben dem Wasserturm befand, bog Tomaso noch einmal ab. Wo wollte er nur hin? Zur Straßenbahn oder U-Bahn jedenfalls nicht. Dann steuerte er auf den Eingang eines Hauses zu, eine Eckkneipe. Sie lag im Souterrain und war geschlossen.
    Tomaso zog ein Schlüsselbund aus der Tasche und schloss auf. Ich blieb ebenfalls stehen und tat so, als wenn ich etwas in meiner Tasche suchte. Er verschwand in der Kneipe und ich hörte, wie er hinter sich wieder abschloss. Gehörte ihm dieser Laden etwa? Arbeitete er dort? Aber er war doch Musiker. Vielleicht war er auch noch Student und am Wochenende verdiente er sich sein Geld in der Kneipe. Allerdings, wie ein Student wirkte er auch wieder nicht auf mich. Dann war er vielleicht doch der Besitzer. Aber dafür wohnte er viel zu ärmlich am Wetterplatz, auch wenn die Wohnung groß war. Seltsam, ich konnte mir kein rechtes Bild machen.
    Ich wartete noch einen Moment, dann spazierte ich langsam an der Kneipe vorbei. Über der Eingangstür stand mit Farbe auf den Putz geschrieben: Absturz . Ein Name wie aus alten Zeiten, als die Gegend um den Kollwitzplatz noch nicht mit wohlhabenden Menschen aus Süddeutschland oder England besiedelt war, sondern Hausbesetzern, Künstlern und Studenten gehört hatte. Der Schriftzug war verblasst, er stammte sicher noch aus dieser Zeit. Nur, Tomaso war zu jung dafür.
    Die Fensterscheiben spiegelten zu sehr, ich konnte vom Innenraum nichts erkennen, während Tomaso mich jetzt mit Sicherheit vorbeilaufen sah, falls er nach draußen schaute. Es half nichts, ich musste warten, bis ich mich auf Engel-Art einschleichen konnte.
    Ich entschied mich, zunächst ein bisschen einkaufen zu gehen. Das Einkaufszentrum am Alexanderplatz hatte heute verkaufsoffenen Sonntag. Was meine Liebe zum Shoppen anging, war ich immerhin eins der normalsten Mädchen der Welt.
    Ich schaute noch kurz in der Staatsbibliothek vorbei, um mir Welt hinter der Welt einfach auszuleihen. Niemand würde es merken, wenn es ein paar Tage fehlte. Erstaunt stellte ich jedoch fest, dass es nicht an seinem Platz stand. Das Buch war verliehen, zum ersten Mal in zweihundert Jahren.
     
    Erst am Abend kehrte ich zurück ins Absturz . Ich schlüpfte ungesehen mit hinein, als zwei junge Frauen die Tür öffneten.
    Ich blieb mitten im Raum stehen und sah mich um. Die Einrichtung bestand aus diversen alten Holzstühlen und Tischen, auf denen jeweils eine Kerze brannte. Die Theke aus Holz hatte bestimmt schon mehrere Jahrzehnte auf dem Buckel. In der hinteren Ecke befand sich ein braunes Klavier mit Löwenbeinen, ein schönes Stück, aber lange nicht so wertvoll wie der Flügel, den Tomaso zu Hause versteckt hielt. Die Kneipe hatte eine gemütliche Atmosphäre.
    Hinter der Theke wusch Tomaso Gläser im Spülbecken. „Noch zwei große, Tom“, rief jemand von einem Tisch am Fenster.
    Tomaso

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