Schattenmelodie
Verliebtheit, die jetzt nicht mehr in mein Leben passt.“ Dann öffnete sie die Tür zum Turmhaus und ging in die Küche.
Ich hatte erreicht, was ich wollte: dass sie Tim und die Realwelt endlich wegschob. Aber dass sie sich dafür Leo als Ersatz suchte, war auch nicht besser. Außerdem war nicht zu überhören, dass sie sauer auf mich war.
„Bei Leo? Warum ausgerechnet bei dem?“
Kira nahm sich eine Tüte Schokomilch aus dem Kühlschrank, steckte einen Strohhalm hinein, setzte sich an den Küchentisch und trank sie aus.
„Weiß nicht, einfach so. Um hier anzukommen.“
Ich setzte mich auf den Stuhl neben sie.
„Na hoffentlich bricht er dir nicht das Herz.“
Kira verzog das Gesicht. Ich spürte, was sie dachte: dass ich ihr beide Männer nicht gönnen würde.
Sie stand wieder auf und sagte: „Ich muss los!“
Überrascht sah ich zu ihr auf. „Wohin denn? Heute ist Sonntag!“
„Strafarbeit. Ich muss mir ein paar vernünftige Klamotten überziehen und dann Häuser streichen. Ich hab ein bisschen randaliert gestern am See.“
Ich erfuhr, dass das Donnergrollen, der prasselnde Regen und das Heulen des Windes – meine akustischen Halluzinationen in der vergangenen Nacht – nicht irreal gewesen waren. Kira hatte mit ihren Talenten verrückt gespielt, heftig mit den Sandmassen am See herumgetobt und dann war Ranja – sie vertrat im magischen Rat das Element Feuer – herangezischt und hatte ihr Einhalt geboten. Sie hatte die Sache jedoch nicht beim Rat an die große Glocke gehängt. Dafür mussten Kira und Leo zur Strafe das ganze Wochenende zwei Wohnhäuser im Tal unten neu streichen.
Den ganzen Tag versuchte ich, mich auf mein Schreiben zum Thema magische Blasen der Welt konzentrieren, aber es gelang mir kaum. Immer wieder gingen mir die Bilder meiner Halluzinationen durch den Kopf. Ich dachte an Tomaso Wieland und dann gleich wieder an Leo, und dass er nicht der richtige für Kira war. In meinem Kopf schien sich alles zu vermischen und ich brachte keine einzige Zeile auf das Papier.
Als Kira abends nach einem langen Arbeitstag erschöpft im Bett lag, sah ich durch das Küchenfenster Leo den Weg zu uns heraufkommen.
„N’abend, ich will zu Kira“, begrüßte er mich und wollte an mir vorbei in die Küche gehen.
Ich wich nicht zur Seite. „Die schläft schon.“
„Quatsch, jetzt schon?“
Ich antwortete nicht. Vielleicht schlief sie, vielleicht nicht. Aber sie sollte sich ausruhen. Mehr noch, ich hatte kein gutes Gefühl dabei, die beiden hier allein zu lassen.
„Na denn …“
Ich sah ihm an, dass er mir nicht glaubte. Vielleicht brannte noch Licht oben bei ihr. Aber er wandte sich ab, hob dabei noch die Hand, was mehr aussah wie ein Abwinken als ein Gruß, und ging.
Ich schloss die Tür und wartete noch eine Weile, bis ich sicher war, dass Kira wirklich schlief. Ich wollte keine Fragen beantworten und ich wollte nichts genau erklären. Dann hinterließ ich ihr eine Nachricht in der Küche, dass ich in der Realwelt zu tun hatte, und machte mich auf den Weg. Den ganzen Tag hatte ich Tomasos unfertiges Stück vor mich hingesummt.
Kapitel 6
In der Stadt herrschte Sonntagsstimmung. Die Glocken der nahe gelegenen Kirche läuteten. Es war kurz nach elf Uhr. Das Haus am Wetterplatz wirkte heute bei Tageslicht und mit Sonnenschein um einiges freundlicher.
Grete schlief noch. Ihre Mutter döste auf dem Sofa, auf dem Schoß ein aufgeschlagenes Buch. Ihr Vater war nicht zu Hause. Ich sah mich ein wenig in Gretes Zimmer um. Da lag ein Hausaufgabenheft. Es verriet, dass sie in die elfte Klasse ging, an das gleiche Gymnasium wie Kira, bevor sie zu uns gekommen war.
Sie besaß ein sehr altes Handy, das ausgeschaltet neben ihr auf dem Bett lag. Ich studierte den kleinen Stapel Bücher auf dem Regalbrett an der Wand. Flucht in die Wolken von Sibylle Muthesius, Paula von Isabel Allende, 1984 von George Orwell, Hunger von Knut Hamsun, In die Wildnis von Jon Krakauer, Der letzte Regen von Antonia Michaelis. Eigentlich war nichts dabei, was Jugendliche ihres Alters sonst so lasen.
Ich hockte mich dicht neben das Bett und stimmte mich auf Grete ein. Sie träumte gerade nichts, schlief ruhig und fest, aber ich spürte, dass sie einsam war und voller großer Sehnsüchte. Wahrscheinlich war sie bis tief in die Nacht auf gewesen. Also würde ich später noch einmal wiederkommen.
Gerade als ich im Hausflur eine Pause einlegen und Gestalt annehmen wollte, hörte ich oben Tomasos
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