Schattenmelodie
angekippte Fenster gelangte ich vom Hof aus in ihr Zimmer.
Grete war nicht zu Hause. Auf dem ungemachten Bett lagen ihre Schulsachen verstreut. Ich blätterte in ihrem Hausaufgabenheft. Die ganze Woche und auch die nächste enthielten Einträge von Hausaufgaben und Sonstigem. Sie schien sich an unsere Vereinbarung gehalten zu haben. Am oberen Rand der nächsten Woche las ich: mit Luisa Sindel wegen Fotoprojekt verabreden.
Luisa Sindel? Das war doch Kiras Freundin. Wenn sie ihren Nachnamen dazuschrieb, schienen sich die beiden noch nicht besonders gut zu kennen, hatten sich aber wohl für ein Schulprojekt zusammengetan.
Gretes Mutter Emma lag wie immer auf dem Sofa zwischen all den Kisten und Dingen, die sich bis zur Decke türmten. Was war da bloß überall drin? Wahrscheinlich ihre gesamte Vergangenheit. Sie schlief unter einer bunt karierten Wolldecke. Auf einem kleinen Tisch neben ihr standen eine leere Teetasse und eine Dose mit Keksen. In der Hand hielt sie ein noch geöffnetes Buch: Das Spiel des Engels von Carlos Ruiz Zafón. Ich musste schmunzeln.
Wie es aussah, schlief Emma regelmäßig hier und gar nicht mehr im Schlafzimmer. Das Bett im Schlafzimmer war übervoll mit Papier, bergeweise Notizen, die Viktor in den letzten Tagen gemacht haben musste. Hier fand nicht mal er selbst noch Platz. Ob Emma bewusst war, dass sie oft ganz allein in diesem verlassenen Haus zurückblieb?
Zum ersten Mal sah ich mir auch die anderen Wohnungen im Haus genauer an. Im Erdgeschoss hatte es früher eine Gastwirtschaft gegeben, aber alles war herausgerissen worden. Nur ein Barhocker mit einem abgebrochenen Bein lag noch mitten im Raum zwischen Staub und Schutt.
Die große Wohnung in der ersten Etage auf Toms Seite besaß noch Tapeten aus den zwanziger Jahren. Es gab weder Dusche noch Badewanne. Hier hatte sicher jemand fast ein Jahrhundert lang gelebt. Die Wohnung unter Grete bestand nur aus zwei Zimmern, eins ging nach vorn raus und eins nach hinten. Die Wände waren weiß gestrichen. Es gab allerdings noch die alten Kachelöfen, zwei in den Zimmern und einen zum Kochen in der Küche. Diese Wohnung stand wahrscheinlich erst ein paar Jahre leer.
Die Wohnung neben Grete war teilweise mit Auslegware ausgestattet. Einige Wände waren mal bunt angemalt worden. Hier gab es weder Heizung noch Öfen. Es sah so aus, als hätte jemand beim Einzug eine Gasetagenheizung eingebaut und sie dann wieder ausgebaut und mitgenommen. Das hintere Zimmer im Seitenflügel hatte eine abgehängte Decke. Sicher Toms Werk, um sein Musikzimmer zu isolieren.
Ich überlegte, ob ich mich in einer der Wohnungen einrichten sollte, aber auf dem Dachboden gefiel es mir eigentlich am besten. Das große Fenster, das eiserne Bett. Es war zwar ziemlich staubig, aber es war ein stiller, märchenhafter Ort. Ich beschloss, ein wenig Staub wischen zu gehen, und später, wenn Tom nach Hause kam, wollte ich es noch einmal mit einem Blüten-Traum versuchen.
Tom kehrte erst in den frühen Morgenstunden von der Arbeit zurück und setzte sich nicht mehr ans Klavier, sondern ging sofort ins Bett. Die ersten Stunden schlief er tief und fest. Dann endlich war es soweit.
Er lag auf dem Rücken, die Decke bis zu den Achseln, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und ich beobachtete, wie sich seine Augäpfel unter den geschlossenen Lidern bewegten. Er trug immer noch sein dunkelblaues Muskelshirt. Ich erwischte mich dabei, wie ich seine schön geschwungenen Lippen bewunderte. Wie wäre es, sie zu küssen? Unwillkürlich biss ich mir auf die Lippen, der Gedanke war mir höchst peinlich vor mir selbst. Ich hatte noch nie jemanden geküsst. Das heißt, ich hätte es beinahe einmal getan – kurz bevor ich ein Engel wurde – aber das war so furchtbar gewesen, dass ich niemals mehr daran denken wollte.
Nein, ich wollte Tom gar nicht küssen. Ich wollte … Ein leiser Seufzer entwich meiner Kehle. Ach, es war einfach ein tröstendes Gefühl, dass Tom mich am gestrigen Abend nicht beachtet hatte und nun saß ich trotzdem auf seinem Bett und betrachtete ihn.
Ich schloss die Augen, konzentrierte mich und machte mich auf den Weg in Toms Traum.
Er stand hinter der Theke und spülte Gläser. Er musste sie immer schneller spülen, weil immer mehr Gläser nachdrängten. Sie fingen an, sich über die Ränder des Tresens zu schieben. Das erste fiel herunter und zersprang auf dem Boden. Weitere folgten. Tom wischte sich hastig eine Haarsträhne aus der Stirn. Seine Bewegungen
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