Schattenmelodie
bekamen jetzt etwas Gehetztes. Dann fiel ihm selbst ein Glas herunter, das er bereits gespült hatte. Schweißperlen rannen über seine Schläfen. Es war eine Art Überforderungstraum. Er hatte zu viel gearbeitet.
Ich entschied mich, in seinem Traum aufzutauchen. Vielleicht würde ich ihm dadurch das nächste Mal auffallen, weil er glaubte, mich irgendwo schon mal gesehen zu haben. Neben seinem Spülbecken ließ ich noch ein Spülbecken entstehen und half ihm, die andrängenden Gläser zu spülen, in einer Windeseile, wie er es nicht vermochte. Verwundert schaute er mich an, und diesmal lächelte er. Im Nu waren alle Gläser sauber und auch alle Gäste waren auf einmal fort.
„Wir sind fertig“, sagte ich. Er wischte sich mit dem nassen Geschirrtuch über das Gesicht und atmete erschöpft aus. Alles war aufgeräumt und an seinem Platz.
„Komm, ich will dir was zeigen.“ Ich forderte ihn auf, mir die Treppe hinunterzufolgen, die hinter der Theke in den Keller führte.
„Wo gehen wir hin?“, fragte er misstrauisch.
„Du wirst es nicht bereuen. Komm.“ Ich nahm die ersten Stufen. Er folgte mir bereitwillig. Gleich würde sich am Fuße der Treppe der magische Wald für ihn auftun und er konnte das Klingen der Blüten erleben.
Doch stattdessen erscholl plötzlich ein unerträgliches Schrillen. Es kam von oben. Tom war einen Moment verwirrt. Dann drehte er sich um, eilte die Treppe wieder hinauf … und riss die Augen auf. Er war mit einem Ruck wach.
Die Klingel seiner Wohnungstür hatte seinen Traum unterbrochen. Sie musste sehr alt sein und gab ein lautes, penetrantes Schnarren von sich. Mist. Fast hatte ich ihn so weit gehabt.
Das Klingeln hörte nicht auf. Es schien dringend zu sein. Tom stand auf, zog seine Jeans über, fuhr sich ein paar Mal durch die nach allen Seiten abstehenden Haare und ging öffnen. Ich folgte ihm. Sein Erstaunen über den sonntäglichen Besucher war genauso groß wie meines. Da stand ein kleiner, sehr gepflegter Japaner mit einer Aktentasche und einem nichtssagenden Lächeln im Gesicht. Er trug eine schmale, eckige Brille, die sehr teuer aussah, und auch sein Anzug wirkte ziemlich wertvoll.
„Spreche ich mit Tomaso Wieland?“, fragte er. Sein japanischer Akzent war deutlich zu hören, aber er sprach fließend Deutsch.
„Steht ja dran.“ Tom zeigte auf den Zettel, den er an die Wohnungstür geheftet hatte, und gähnte.
„Mein Name ist Tanaka. Ich werde dieses Haus kaufen.“
Tom gab ein verächtliches Prusten von sich.
Der Japaner blinzelte. Erst sah es aus, als wollte er Tom zuzwinkern, aber als er nicht mehr damit aufhörte, war klar, dass er unter einem nervösen Tick litt.
„Das kann leider überhaupt nicht sein.“
„Oh, doch, das wird so sein. Ihr Haus wurde nach langjährigem Prozess an die Erben der Familie Rosenheim in New York rückübertragen. Sie müssten vor zwei Wochen Post bekommen haben.“
„Ich habe keine Post bekommen.“
„Vielleicht haben Sie nicht in Ihrem Postkasten nachgeschaut?“
Ich dachte an die kaputten und von Werbung überquellenden Briefkästen im Hauseingang.
„Ich habe keine Post bekommen“, wiederholte Tom. Sein Gesicht war regungslos. Er starrte den Japaner an, ohne mit der Wimper zu zucken, während sich das Zwinkern von Herrn Tanaka verstärkte.
„Nun, wie auch immer. Die Erbengemeinschaft verkauft an mich. Ich dachte, es könnte für Sie von Vorteil sein, wenn wir uns schon einmal unterhalten, während der Verkauf im Hintergrund abgewickelt wird. Das ist alles nur noch eine Formsache. Dürfte ich vielleicht …“ Der Japaner machte einen Schritt in Richtung Wohnungsflur. Doch Tom versperrte ihm den Weg.
„Verschwinden Sie!“ zischte er und knallte ihm die Wohnungstür vor der Nase zu.
„Auf Wiedersehen, Herr Wieland, wir sehen uns“, hörte ich den japanisch gefärbten Singsang von der anderen Seite und dann Schritte auf der Treppe.
„Arschloch“, brummte Tom. Die Nachricht, dass ihm das Haus nicht mehr gehörte – es war also bis vor kurzem tatsächlich seins gewesen – schien ihn nicht zu schocken. Er wusste es bereits. Aber wie es aussah, wehrte er sich noch gegen diesen Umstand. Und mit dem neuen Besitzer hatten er und die Bewohner des Hauses wohl nicht das große Los gezogen. Ein aalglatter Typ, bei dem mit dem Schlimmsten zu rechnen war.
Tom dehnte seine Glieder und versuchte, den Schlaf und diese unverhoffte Begegnung abzuschütteln. Für mich wurde es höchste Zeit zu verschwinden, sonst würde
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