Schattenmelodie
einer winzigen Schrift und bis auf den letzten Millimeter vollgekritzelt. „Das ist nicht einfach, weißt du.“
„Was für einen Roman?“, fragte ich.
Er machte eine ausholende Geste: „Es geht um Liebe, Philosophie und die letzten Dinge.“
„Ja, das klingt kompliziert.“
„Nein, das ist nicht das Komplizierte daran. Das Komplizierte ist, es nicht kompliziert zu machen. Es ist ein Thriller, und es soll ein Bestseller werden. Was Einfaches, aber Eindringliches, was reingeht wie nix, ein Bestseller eben, jawohl.“ Er hieb zur Bekräftigung auf sein Notizbuch. Ich führte mein Glas an die Lippen, tat so, als wenn ich einen Schluck nahm und analysierte den Glanz in seinen Augen. Er kam vom Alkohol, aber nicht nur. In ihm brannte definitiv eine ernstzunehmende Leidenschaft.
„Hast du schon einen Verlag?“
„Verlag, Verlag …“ stöhnte er verächtlich. „Hör mir auf mit Verlagen …“ Dabei lehnte er sich zu weit zurück und verlor fast das Gleichgewicht, hielt sich aber gerade noch an der Theke fest.
„Viktor, das ist das letzte für heute, klar?!“, sagte Tom, der plötzlich nicht mehr hinter, sondern vor der Theke stand.
„Schon klar, Chef.“
Mir schenkte Tom dabei nicht einen Deut Aufmerksamkeit. Er sah Viktor aus strengen, dunkelblauen Augen an. Sein Blick hatte etwas Abgründiges und Unerbittliches zugleich. Das Muskelshirt, das er heute trug, war ebenfalls dunkelblau. Ich versuchte, den Mann vor mir mit Tomaso, dem Klavierspieler, in Einklang zu bringen. Vor mir stand jemand, der gewöhnlich schien, aber ein großartiges Geheimnis hütete, und niemand wusste davon.
Auf einmal fühlte ich mich traurig. Und zwar, weil ich als einzige sein Geheimnis kannte, aber mit meiner Anwesenheit trotzdem nicht die winzigste Spur bei ihm hinterließ. Als Tom ging, um die Leute an den Tischen zu bedienen, wurde dieses Gefühl von einem noch unangenehmeren Gefühl abgelöst.
Tom beachtete mich nicht, aber nun bemerkte ich, dass mich dafür jemand anders die ganze Zeit zu beobachten schien. Es war der gleiche Typ von letztens. Er saß am anderen Ende der Bar, die neben Viktor in einem rechten Winkel zur Wand führte, und schaute zu mir herüber. Ich war mir sicher, dass er es schon länger tat. Und diesmal meinte er nicht das Gemälde mit der Ostseelandschaft. Diesmal meinte er eindeutig mich. Wieder lagen drei Bücher vor ihm, von dem er eins aufgeschlagen hatte. Daneben stand eine Tasse Kaffee.
Als mein Blick seinem begegnete, machte er keinen Hehl daraus, dass er mich beobachtet hatte, und senkte den Blick nur langsam wieder auf die Seiten seines Buches. Seine Augen waren freundlich, und um seinen Mund spielte jetzt ein kleines Lächeln. Er sah eigentlich nett aus, aber irgendwas schreckte mich an ihm ab, war mir durch und durch unheimlich.
Viktor war betrunken und quasselte mich einfach voll, das hatte nichts zu bedeuten. Tom ließ das Gefühl in mir aufkommen, ich sei völlig farblos. Okay, ich hatte mich ja auch nicht gerade aufgepeppt. Ich wollte nicht auffallen, aber natürlich auch nicht übersehen werden, so als wäre ich unsichtbar. Deshalb tröstete es mich, dass dieser große, dunkelhaarige Fremde mich ins Visier genommen hatte.
Trotzdem fühlte ich mich unwohl. Viktor schien mich vergessen zu haben und kritzelte inzwischen aufgeregt in sein Buch. Vor mir stand das volle Glas Wasser. Und dahinten saß der Mann mit den Büchern, der immer wieder rüberschaute. Ich musste weg. Nicht, dass er noch herüberkam. Ich überlegte, Tom zuzurufen, dass ich zahlen wollte, aber mir war es peinlich, weil mein Glas noch unberührt vor mir stand. Am liebsten wollte ich jetzt so unauffällig wie möglich verschwinden.
Als Tom einige Stufen in den Kellerraum hinter der Theke hinabstieg, um einen neuen Kasten Bier heraufzuholen, legte ich einfach das Geld neben mein Glas, schnappte meine Tasche, murmelte ein „Tschüss“ zu Viktor, was der nicht mal bemerkte, und verschwand aus der Kneipe.
Ich eilte die Straße entlang, Richtung Wetterplatz, so als müsste ich schnell Abstand zwischen mich und Tom bringen, damit er mich nicht doch noch bemerkte. Als wenn er mir dann folgen würde!
Im selben Moment merkte ich, dass mir tatsächlich jemand folgte. Ein Mann holte mich ein. Ich wich zur Seite, damit er vorbeigehen konnte. Aber er wollte gar nicht vorbei. Er wollte zu mir.
„Hey, du hast deinen Mantel vergessen.“ Er hielt ihn mir hin und lächelte mich an. Es war der Mann, der mich eben noch
Weitere Kostenlose Bücher